Patienten steht vor einer riesigen TabletteSigmund © Peter de Wit

Warum der wissenschaftliche Bericht zum hyperbolischen Absatzschemata von Dr. Horowitz und Dr. Taylor so bedeutsam für Betroffene ist.

Lesedauer: 8 Minuten

2021 veröffentlichten Dr. Mark Horowitz und Dr. David Taylor den Bericht Absetzmethode zur Verminderung von Entzugssymptomen beim Reduzieren und Absetzen von SSRI-Antidepressiva (Originaltitel: Tapering of SSRI treatment to mitigate withdrawal symptoms) in the »Lancet Psychiatry«, inklusive Anhang mit konkreten Absetzschemata der einzelnen SSRI-Antidepressiva. (deutsch). In diesem Beitrag begründe ich, warum dieser Bericht mit zwei weiteren Berichten der bedeutsamste psychiatrische Bericht der letzten 20 Jahre ist. Alle drei zusammen führten zu fundamentalen Änderungen der Behandlungsleitlinien in England.

 

Mir wurde die Bedeutsamkeit dieses Berichts für Betroffene und Ärzte bewusst, nachdem ich ihn gelesen hatte und ich hab Dr. Horowitz um Erlaubnis gebeten, diesen Bericht übersetzen zu dürfen, was dieser mit Freude begrüßte, da sein größtes Anliegen es ist, das möglichst viele Menschen diesen Beitrag lesen. Ich habe die Übersetzung bereits einigen Unikliniken gesendet.

Dr. Horowitz ist selbst Betroffener und versucht seit einigen Jahren ein SSRI abzusetzen.

Zuvor wurden zwei weitere bedeutsame Berichte in England veröffentlicht:

Vorbildlich: England ändert seine Behandlungsleitlinien für Depressionen zum Wohl von Betroffenen

Im Jahr 2020 veröffentlichte das »Royal College of Psychiatrists« (Verband der Psychiater Englands) die Patienteninformation Stopping Antidepressants. Hier die deutsche Übersetzung:

Antidepressiva absetzen – Patienteninformation des Royal College of Psychiatrists (deutsch)

Im gleichen Jahr wurde der Bericht Understanding depression: Why adults experience depression and what can help der »British Psychological Society« veröffentlicht. (englisch)

2022 veröffentlichte die »NICE« ((National Institute for Health and Care Excellence), die die Behandlungsrichtlinien für Depressionen in England festlegt, ihre neueste Edition. Der Großteil dieser drei Berichte floss in diese Behandlungsleitlinien ein.

Mehr noch: Die NICE erstellte und veröffentlichte die Zusatzleitlinie Medicines associated with dependence or withdrawal symptoms: safe prescribing and withdrawal management for adults. Der Bericht Understanding depression: Why adults experience depression and what can help der »British Psychological Society«” wurde nahezu vollständig in die neue Behandlungsleitlinie übernommen.

Alle drei Organisationen sowie die NICE erklären das biochemische Modell als Ursache für Depressionen und deren Heilung durch Antidepressiva für wissenschaftlich widerlegt. In der Zusatzleitlinie steht im Titel: Medicines associated with dependence or withdrawal symptoms zu deutsch Medikamente, die mit Abhängigkeits- oder Entzugserscheinungen verbunden sind:

Das ist die Bestätigung, das Antidepressiva körperlich abhängig machen, auch wenn es nicht wörtlich so gesagt wird.

Man kann hier von einer Revolution der Psychiatrie in England sprechen!

Weitere Änderungen in der neuen englischen Behandlungsleitlinie für Depressionen

Die neuen Behandlungsleitlinien in England fordern Hausärzte dazu auf bei der Diagnose einer Depression nicht als erste Maßnahme Antidepressiva zu verordnen. Das ist verständlich, da die meisten Erstverschreibungen von Antidepressiva durch den Hausarzt erfolgen. Weitere Punkte sind:

  1. Bei leichten Depressionen sollen Antidepressiva gar nicht eingesetzt werden sondern Psychotherapie, u.a. die MBCT, achtsamkeitsbasierte Verhaltenstherapie der Oxford University, die bereits zur Rückfallprophylaxe sehr erfolgreich eingesetzt wird sowie weitere Maßnahmen.
  2. Bei mittelschweren Depressionen gilt das gleiche, es sei denn der Patient wünscht nach ausführlicher Aufklärung eine Behandlung mit Antidepressiva.
  3. Bei schweren Depressionen sollen Antidepressiva weiterhin verordnet werden.
  4. Zusatzleitlinie: Arzneimittel, die mit Abhängigkeit oder Entzugssymptomen einhergehen: sichere Verschreibung und Entzugsmanagement für Erwachsene

In seinem Buch Antidepressiva. Wie man die Medikamente bei der Behandlung von Depressionen richtig anwendet und wer sie nicht nehmen sollte: Vom Mitautor der Behandlungsleitlinie für Depressionen fordert der Psychiater Prof. Dr. Tom Bschor, dass Antidepressiva nicht länger als 6 bis 12 Monate eingenommen werden sollten.

Wirkt ein Antidepressiva nicht, so sollte man nicht weitere ausprobieren, da alle nach dem gleichen Prinzip funktionieren und die Wahrscheinlichkeit, das ein anderes wirken wird sehr gering ist so Bschor.

Hier die Begründungen, warum ich diesen Bericht für so bedeutsam halte:

Warum der Bericht so bedeutsam ist

Der Bericht ist deshalb so bedeutend, weil er wissenschaftlich beweist, das die schon lange vor diesem Bericht in US-Absetzforen durch Betroffene entwickelte und sehr erfolgreich angewandte sogenannte »10-Prozentmethode« funktioniert. Diese Methode ist keine Garantie, Garantien gibt es im Entzug nicht. Es wird die Wahrscheinlichkeit enorm erhöht, das der Entzug gelingt.

Betroffene haben erstmals ein offizielles wissenschaftliches Dokument, das sie nicht verrückt sind oder sich das einbilden, wie Psychiater gerne behaupten. Dies können Sie ihrem Arzt/Psychiater zeigen und sagen »das ist nun wissenschaftlich bewiesen«.

Ich weiß, dass man als psychisch Kranker einen schweren Stand bei Psychiatern hat, von denen die meisten im deutschsprachigen Raum noch immer am biochemischen Modell festhalten und diesen wissenschaftlichen Bericht gar nicht kennen und aus Erfahrung weiß ich auch, dass es nicht klug ist den eigenen Psychiater diesen Bericht vor den Latz zu knallen und ihn aufzufordern das zu lesen und bitte sich an die Anweisungen zu halten.

Bei mir hat es oft geholfen den naiven und ahnungslosen Patienten zu spielen. Ich habe ihnen das jeweilige Dokument, um das es mir ging übergeben und gesagt »Ich habe das hier im Internet gefunden, ich verstehe davon nichts, aber sie mit Ihrer Erfahrung und Fachkompetenz können das sicherlich bewerten.« Nichts lieben Ärzte mehr, als gelobt zu werden, als Experte angesehen zu werden und Euch tut es nicht weh, wenn ihr dafür das bekommt, was ihr wollt.

Weitere bedeutsame Erkenntnisse aus dem Bericht

Es gibt für jedes SSRI-Antidepressiva ein konkretes Absetzschema. Damit können Entzugssymptome beim reduzieren und absetzen von SSRI verhindert oder zumindest so gering wie möglich gehalten werden.

Bei jedem Psychopharmaka-Entzug ist es von entscheidender Bedeutsamkeit von Anfang an alles richtig zu machen. Mit dem Fachartikel von Dr. Horowitz und Dr. Taylor, an dem man sich orientieren kann, ist dies nun besser möglich denn je.

Der Bericht beweist, dass die SSRI-Antidepressiva überdosiert verordnet werden. Es macht nur wenige Prozente der Belegung der Rezeptoren aus, ob ich 60 mg, 40 mg oder 20 mg eines SSRI einnehme (zu sehen an der prozentualen Belegung der Rezeptoren in der Abbildung Tabelle 2). Die in den Beipackzetteln angegebenen Standard-Dosen von 20 bis 40 mg sind viel zu hoch. Für die Einnahme ist das zunächst kein Problem, hochdosieren geht schnell, runterdosieren sehr viel langsamer oder auch gar nicht.

Es macht in jedem Fall einen gewaltigen Unterschied ob ich nur 20 mg oder 60 mg eines SSRI reduzieren und absetzen muss. Je höher die Dosis um so länger der Entzug, wie folgende Tabelle zeigt:

Tabelle: Herleitung der SERT-Belegung durch Citalopram-Dosen, berechnet nach der Michaelis-Menten-Gleichung der Enzymreaktion

Tabelle 2: Herleitung der SERT-Belegung durch Citalopram-Dosen, berechnet nach der Michaelis-Menten-Gleichung der Enzymreaktion
Die SERT-Belegung wurde berechnet nach der Michaelis-Menten-Gleichung der Enzymreaktion, abgeleitet von Meyer et al. Gezeigt werden übliche klinische Dosen, die einer 10 % Minderung der SERT-Hemmung entsprechen. Diese Dosen können durch eine Kombination von Tabletten und Flüssigpräparaten erzielt werden. Weitere Anpassungen können notwendig sein. SERT = Serotonin-Transporter.

Der Bericht erklärt, warum es im unteren Dosisbereich unter 10 mg noch mal besonders hart werden kann. Bei 9 mg sind noch 70 % der Rezeptoren belegt. Daher wäre eine empfohlene Standarddosis von 10 mg in den meisten Fällen ausreichend. Schon das bedeutet Schwerstarbeit für das Gehirn um die Homöosthase wieder herzustellen, die das SSRI gestört hat.

Ich hätte mich wie viele andere glücklich geschätzt, wenn es diesen Bericht 2009 schon gegeben hätte und ich nicht, wie Tausende andere im SSRI-Langzeitentzugssyndrom gelandet wäre.

Ich rate davon ab, schneller oder in größeren Dosen zu reduzieren, wenn man denkt,

das läuft ja richtig gut, da kann ich auch schneller reduzieren.

Bitte seit beharrlich. Entzugssymptome können auch noch Wochen verzögert eintreten.

Wozu der Bericht geführt hat

Der Bericht hat zu einem Pilotprojekt geführt, das seit etwa 3 Jahren in England läuft: Eine ambulante Einrichtung unter der Leitung von Joanna Moncrief und Dr. Horowitz, in die Personen kommen und beim reduzieren und absetzen von Antidepressiva psychologisch und ärztlich betreut werden über einen Zeitraum bis zu 5 Jahren. Die Kosten werden vom »NHS« (National Health Service England) vollständig übernommen.

Das Projekt ist schon jetzt ein großer Erfolg und es sollen weitere Ambulanzen eingerichtet werden. Ich wünschte ich wäre Engländer, denn diese Behandlung ist nur für englische Staatsbürger. Dabei wird natürlich auch geforscht. Eine erste Erkenntnis ist, dass das reduzieren noch langsamer erfolgen sollte, als die 10%-Methode, um die Entzugsproblematik zu verringern. Für Studien ist es noch zu früh, wie Dr. Horowitz mir mitteilte.

Wozu diese neuen Erkenntnisse führen könnten

In dieser Hinsicht kann ich sogar die beiden großen Selbsthilfegruppen für Menschen mit Depressionen besser verstehen, die »Stiftung Deutsche Depressionshilfe« und »Deutsche DepressionsLiga e. V.« , die unser Leid leugnen und uns systematisch ignorieren, die, wie ich schmerzlich erfahren musste nichts weiter als Lobbyorganisationen der Pharmahersteller sind und zum Teil noch an das biochemische Modell glauben und das auch Besuchern ihrer Websites so erklären.

Prof Hegerl ist Gründer der Stiftung, ich führte mit ihm einen regen E-Mail-Austausch, in dem er offlabel die Befürchtung äußerte, dass wenn sie darauf eingehen und wirklich aufklären würden, es zu deutlich mehr Suiziden und Suizidversuchen kommen würde und es Patienten deutlich schlechter geht, wenn sie 20 Jahre ein SSRI genommen haben und nun unter Entzugssymptomen leiden, weil sie versuchten es abzusetzen.

Ich habe ihm zugestimmt, ich sehe das auch so, aber es nicht anzusprechen ist noch schlimmer, denn dann werden diese Medikamente immer weiter verschrieben und es gibt immer mehr Betroffene und auch mehr Suizide.

Ich rate inzwischen Betroffenen, die ein Antidepressiva mehrere Jahre genommen haben und es ihnen damit einigermaßen gut geht, davon ab einen Reduzierungsversuch zu starten. Oft landet man dann im Langzeitentzug. Es kann aber auch nicht die Lösung sein, die Betroffenen blind ins Verderben laufen zu lassen, so wie es beide Organisationen seit Jahren tun. Die Problematik betrifft auch hauptsächlich die SSRI. Das nennt sich Dilemma.

Wer darf das entscheiden, ob man diese Information veröffentlicht oder nicht, auch von offizieller Seite der Behandlungsleitlinienkomission? Prof Dr. Tom Bschor deutet das in seinem Buch schon an und ist besorgt, dass viele ihr Antidepressiva zu lange einnehmen und nicht mehr absetzen können oder nur unter großem und langwierigen Leid.

Das Nutzen-Risiken-Verhältnis als Kriterium zur Verordnung von Medikamenten

In meiner Abhandlung Aufklärung vor Verordnung: Meine erwünschten Voraussetzungen vor Verschreibung von Antidepressiva schlage ich daher vor, dass diejenigen, die bereits ein SSRI/SNRI nehmen auch weiterhin nehmen sollen, SSRI/SNRI aber nicht mehr neu zu verschreiben. Bei Medikamenten erfolgt stets eine Nutzen-Risiken-Abwägung um festzustellen, was überwiegt. Bei den SSRI/SNRI steht diese bei einer 20 % pharmakologischen Wirkung und den gleichzeitig schlimmen Nebenwirkungen und Absetzsymptomen, wie Akathisie, in keinem verantwortbaren Verhältnis.

Tatsächlich dürfte es gar keine SSRI/SNRI geben, wenn der Hersteller vom SSRI Paroxetin/Seroxat die Zulassungsbehörde nicht belogen hätte. Bei der Zulassungsstudie kam es unter den Probanden zu 20 Suiziden und 40 Suizidversuchen. Das Medikament wäre niemals zugelassen worden!

Der Seroxat-Skandal: Warum es die SSRI und SNRI Antidepressiva heute gar nicht geben dürfte.

Es gibt noch ältere trizyklische Antidepressiva wie Doxepin, die haben mehr Nebenwirkungen, aber diese sind oft harmloser. Eine Akathisie kommt bei Antidepressiva nur bei den SSRI/SNRI vor und das SSRI-Absetzsyndrom, wie das im Beipackzettel von SSRI/SNRI genannt wird ist die Verharmlosung des ganzen und bildet eine eigene Indikation, die es bei älteren Antidepressiva nicht gibt.

Ich bin großer Star Trek-Fan. Die Vulkanier haben eine Maxime:

Das Wohl Vieler wiegt schwerer als das Wohl Weniger oder eines Einzelnen

Damit meine ich in diesem Fall: Das Wohl der Betroffenen wiegt schwerer als das Wohl der Administratorin bzw. des Teams von psyab.net.

Ich hatte auch dem größten deutschsprachigen Selbsthilfeforum Psyab.net (ehemals ADFD Antidepressiva-Forum-Deutschland) sowie den Facebook-Absetzgruppen angeboten diesen Bericht in den Gruppen und Foren zu teilen.

Diese haben das abgelehnt, was ich nicht verstehe, logisch ist das nicht. Man enthält Betroffenen dieser Gruppen und Foren hier wichtige Informationen vor, die ihr Leid beenden oder lindern könnten.

Tatsächlich kann dieser Bericht in deutsch bisher nur auf meiner Website gelesen und heruntergeladen werden sowie über einen Beitrag von Peter Ansar über Dr. Horowitz und seinen Bericht:

Großbritannien hilft bei Abhängigkeit von Antidepressiva

Ich hatte auch Peter Lehmann und der von ihm mitbetriebenen Plattform absetzen.info den übersetzen Bericht angeboten. Er versprach, dass er das an den Administrator weitergeben würde. Ich habe inzwischen den Administrator selbst angeschrieben, auch er versprach, den Bericht zu veröffentlichen. Bis heute hat sich da nichts getan. Ich habe Peter Lehmann noch mal auf Facebook angeschrieben. Bisher keine Antwort.

Der Mythos vom logisch denkenden Menschen

Ich sagte mehrfach, dass sich dieses Verhalten der Selbsthilfeorganisationen sowie die Facebook-Absetzgruppen und des Forums nicht logisch erklären lassen und dafür gibt es einen einfachen Grund:

Menschen sind keine logischen sondern psychologische Wesen,

das sagt der Mitbegründer der Akzeptanz- und Commitment-Therapie (ACT) Stephen Hayes und ich kann schon hören, wie einige Schnappatmung bekommen:

Wie, der Mensch ist nicht die Krone der Schöpfung?

aber ich denke doch logisch

was ist mit dem gesunden Menschenverstand?

Wenn diese drei wie mit Hammer und Meisel in unser Gehirn gehämmerte Thesen wahr wären, dann müsste man sich fragen, warum glaubt die FDP und die CDU/CSU noch immer an unendliches Wachstum und Wohlstand für alle bei begrenzten Rohstoffen, wie konnte Donald Trump Präsident der USA werden und wie konnte es zum Brexit kommen? Warum gibt es so viele zwischenmenschliche Konflikte? Das lässt sich nur sozialpsychologisch erklären und das werde ich im zweiten Teil dieses zweiteiligen Beitrages erklären.

Aus diesem Grund kann dieser Beitrag auch nicht kommentiert werden, es fehlen ja noch wichtige Informationen um sich eine Meinung zu bilden.

Aloha*

 

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Veröffentlicht von

Mein Name ist Markus Hüfner. Ich bin Blogger, Webdesigner und Künstler. In diesem Blog schreibe ich über meine Erfahrungen mit der Heilkraft der buddhistischen Psychologie und dem richtigen Reduzieren und Absetzen von Psychopharmaka auf Stand der aktuellen Wissenschaft.