In ZEIT ONLINE ist am 8. Juni 2024 der Artikel »Pillen absetzen? Keine Panik!« erschienen, der sich auf eine neue Übersichtsstudie zum Absetzen von Antidepressiva bezieht. Dies wird im Artikel stark verharmlost, die neue Übersichtsstudie ist voller methodischer Fehler, die die »Deutsche Gesellschaft für Soziale Psychiatrie« (DGSP) in der Stellungnahme »Unbegründete Entwarnung zu Antidepressiva-Entzugssymptomen durch Meta-Studie« aufzeigt.
Der Artikel Pillen absetzen? Keine Panik! von Anaïs Kaluza und Tom Kattwinkel veröffentlicht in ZEIT ONLINE bezieht sich auf die neue Übersichtsstudie von Henssler und Kollegen Incidence of antidepressant discontinuation symptoms: a systematic review and meta-analysis (deutsch: Häufigkeit von Absetzsymptomen bei Antidepressiva: eine systematische Übersicht und Metaanalyse) »Lancet Psychiatry«. 2024.
Dieser Artikel verharmlost Antidepressivaentzugssymptome bzgl. deren Häufigkeit, Dauer und Schwere und ist für Betroffene, die schlimme Erfahrungen mit der Einnahme und/oder dem Absetzen von Antidepressiva gemacht haben bzw. noch immer machen, ein Schlag ins Gesicht und entspricht nicht der gängigen Praxis.
Daher habe ich folgenden Brief verfasst (JA! Einen Brief! Die Autoren haben keine E-Mail-Adresse, das ist etwas, das ich schon länger mit Sorge bei vielen Medien beobachte), in dem ich die beiden Autoren sowie die verantwortliche Redakionsleitung von ZEIT ONLINE um eine Stellungnahme zu den methodischen Fehlern und einer Richtigstellung bitte.
Die Autoren von ZEIT ONLINE bezeichnen ihren Artikel als Analyse. Ich habe nachgesehen, was die Definition des Begriffs Analyse ist:
Eine Untersuchung, bei der etwas zergliedert, ein Ganzes in seine Bestandteile zerlegt wird, eine wissenschaftliche, sorgfältige Analyse
Diese Analyse bezieht sich nur auf die Übersichtsstudie von Henssler und Kollegen. Im Artikel wird aber auch auf die Übersichtsstudie A systematic review into the incidence, severity and duration of antidepressant withdrawal effects: Are guidelines evidence-based?(deutsch: Eine systematische Übersicht über die Häufigkeit, Schwere und Dauer von Antidepressiva-Entzugserscheinungen: Sind die Leitlinien evidenzbasiert? von Dr. James Davies von der »University Roehampton«, London und Professor John Read von der» University East London« verwiesen und diese als praktisch wissenschaftlich widerlegt erklärt, was sie nicht ist!
Eine Analyse müsste beide Übersichtsstudien aufgliedern und die Ergebnisse gegenüberstellen. Das wird nicht getan, demnach ist es keine Analyse, denn es erfolgt keine Gegenüberstellung der beiden Übersichtsstudien und ihrer Aussagen und Ergebnisse.
Stellungnahme der DGSP: Unbegründete Entwarnung zu Antidepressiva-Entzugssymptomen durch Meta-Studie (20. Juni 2024)
Die Stellungnahme der DGSP zeigt die methodischen Fehler (hier Limitationen genannt) der Übersichtsstudie von Henssler und Kollegen, die zu diesen falschen Ergebnissen führen.
Im folgenden werde ich, unter Einbeziehung der Stellungnahme der DGSP, exemplarisch 4 der methodischen Fehler der Übersichtsstudie von Henssler und Kollegen der Übersichtsstudie von Davies und Read gegenüberstellen, über die ich einen Beitrag veröffentlicht habe:
Diese Meta-Studie kommt zu einem ganz anderen Ergebnis: Antidepressivaentzugssymptome werden in ihrer Häufigkeit, Dauer und Schwere bisher unterschätzt.
1. Methodischer Fehler: Häufigkeit, Dauer und Schwere von Antidepressivaentzugssymptome
Im Artikel von ZEIT ONLINE heißt es:
Eine Übersichtsarbeit berichtete 2019, jeder zweite Patient sei betroffen. Die Masse an Forumsbeiträgen und TikTok-Videos bestätigt diesen Eindruck. Doch stimmt er auch? […]
Hier beziehen sich die Autoren auf die Übersichtsstudie Davies und Read
Im Artikel von ZEIT ONLINE heißt es weiter:
Das wichtigste Ergebnis: Absetzsymptome sind seltener als bislang vermutet. In etwa der Hälfte aller Fälle treten sie wie eine sich selbsterfüllende Prophezeiung auf – allein durch die Erwartung, sie zu spüren. Eine Art negativer Placeboeffekt. Nur jeder sechste Patient entwickelt Absetzsymptome, die auch wirklich dadurch entstehen, dass der Wirkstoff im Gehirn fehlt.
Unsere Daten zeigen: Nicht jeder wird an Absetzsymptomen leiden, sagt Studienautor Christopher Baethge von der Universität Köln. Das sollte die öffentliche Debatte entemotionalisieren. Absetzsymptome sind ein Problem, sicherlich. Aber sie sollten weder bei den Patienten noch bei den Ärzten oder in der Öffentlichkeit zu einer übermäßigen Beunruhigung führen.
Beide Aussagen sind falsch, da sie aufgrund methodischer Fehler bei der Durchführung der Übersichtsstudie zustande kommen und verharmlosen Antidepressivaentzugssymptome stark.
In der Stellungnahme der DGSP heißt es:
Als Fachausschuss Psychopharmaka der »DGSP« begrüßen wir diesen Schritt und die Aufmerksamkeit, welche diesem wichtigen Thema zuteil wird.
Als Forschende, Referierende, BehandlerInnen und Antidepressiva-Erfahrene sind wir aber auch besorgt, dass die Arbeit aufgrund erheblicher methodischer Limitationen, der Begriffswahl und aus unserer Sicht unbegründeter Schlussfolgerungen dieses ernsthafte Thema verharmlost.
2. Methodischer Fehler: Antidepressiva machen nicht abhängig
Im Artikel heißt es:
Das Problem ist nur: Bei manchen Patienten führt das Absetzen zu Beschwerden […] Psychiater und Psychologinnen sprechen von Absetzreaktionen oder einem Absetzsyndrom.
Unter methodischen Limitationen heißt es in der Stellungnahme der DGSP:
Die Verharmlosung beginnt mit der Bezeichnung Absetzsymptome bzw. Absetzreaktion. Diese bewusst gewählte Begrifflichkeit ist das erfolgreiche Produkt einer aggressiven Marketingkampagne der Pharmaindustrie, welche darauf zielte, dass Konsumierende Antidepressiva nicht mit körperlicher Abhängigkeit und Entzug in Verbindung bringen (2, 3).
Wie viele andere psychoaktive Substanzen auch, die auf das zentrale Nervensystem einwirken, führt die Einnahme von Antidepressiva nach wenigen Wochen nachweisbar zu neurophysiologischen Anpassungsvorgängen im Gehirn. Das heißt, es erfolgt eine körperliche Gewöhnung/Toleranz oder gar Abhängigkeit (4, 5) und folglich bei zu raschem Absinken des Blutspiegels nach Reduktion oder Absetzen der Substanz zu entsprechenden körperlichen Gegenreaktionen, welche in der Pharmakologie und in der Suchtmedizin per Konvention als Entzugsreaktionen oder Rebound-Phänomene bezeichnet werden (2, 6-8).
Positionspapier Annahmen und Fakten: Antidepressiva der DGSP
Die DGSP hat das Positionspapier Annahmen und Fakten: Antidepressiva veröffentlicht. Unter Punkt 3 steht:
3. Annahme: Antidepressiva verursachen keine Abhängigkeit.
Fakten: Die Hälfte aller Menschen, die Antidepressiva eingenommen hat, erleidet Entzugssymptome beim Absetzen [23]. Je länger die Einnahme dauert, desto mehr Nutzer sind davon betroffen und umso schwerer ist es, das Antidepressivum wieder abzusetzen[24]. Häufig tritt eine stark ausgeprägte Absetzsymptomatik auf, die mehrere Wochen, Monate, schlimmstenfalls sogar Jahre anhalten kann [23,25,26,64].
Häufig werden Entzugssymptome fälschlicherweise als Rückfall der Grunderkrankung diagnostiziert und unnötigerweise wieder mit Antidepressiva behandelt [6,23,26,27]. Mehrere Wissenschaftler bewerten die beim Absetzen auftretenden Beschwerden als »Entzugssymptome« [23,26,28].
Wir wollen den alten Streit um die Begriffe Abhängigkeit und Entzug nicht weiter verfolgen. Es ist eindeutig, dass die Patienten körperliche Entzugserscheinungen beim Absetzen der Medikamente erleiden können. Hauptstreitpunkt der Debatte ist das nicht vorhandene drogensuchende Verhalten bei Nutzern von Antidepressiva. Ob dies eine Rechtfertigung für den Nichtgebrauch des Wortes Abhängigkeit darstellt, darf bezweifelt werden.
Exkurs: Die hyperbolische Absetzmethode: Wie man Antidepressiva richtig reduziert und absetzt
Die offizielle Absetzmethode ist laut Leitlinie eine Halbierung der Dosis alle 4 Wochen. Diese Absetzmethode ist nachweislich viel zu schnell und kann zu physischen und psychischen Entzugssymptomen führen, die so stark sein können, das Betroffene nicht mehr zur Arbeit gehen können und/oder dauerhaft erwerbsunfähig werden, wie in der Übersichtsstudie von Davies und Read erwähnt.
Der Psychiater Dr. Mark Horowitz und der Pharmakologe Prof. Dr. David Taylor zeigen in ihrem wissenschaftlichen Bericht Absetzmethode zur Verminderung von Entzugssymptomen beim Reduzieren und Absetzen von SSRI-Antidepressiva, wie man Antidepressiva richtig reduziert und absetzt.
Dr. Horowitz ist selbst Betroffener und versucht seit mehreren Jahren ein SSRI abzusetzen. Er hat eine Absetzmethode entwickelt, die Entzugssymptome so gering wie möglich halten.
Für jedes SSRI gibt es einen konkreten Absetzplan. Bei der sogenannten hyperbolischen Absetzmethode von Horowitz und Taylor erfolgt die Reduzierung um jeweils 10% der vorherigen Dosis alle 6 bis 8 Wochen.
Aus den konkreten Absetzplänen geht hervor, das SSRI in der Regel überdosiert verordnet werden, es macht bzgl. der Rezeptorenbelegung kaum einen Unterschied, ob man 60, 40 oder 20 mg eines SSRI einnimmt.
Für das Reduzieren macht es einen großen Unterschied, je höher die Dosis umso länger und schwerer das Reduzieren.
Die hyperbolische Absetzmethode wurde ursprünglich in Foren von Betroffenen wie dem US-Forum survivingantidepressants.org entwickelt , durch ein Try and Error-Verfahren von Betroffenen. Dort wird sie 10%-Methode genannt und diese hat sich weltweit als die beste Methode bewährt.
Dr. Horowitz und Dr. Taylor, haben dies nun wissenschaftlich als erfolgreichste Absetzmethode für Antidepressiva bestätigt.
Diese Absetzmethode ist keine Garantie, das es zu keinen Entzugssymptomen kommt, aber sie erhöht die Wahrscheinlichkeit um ein Vielfaches.
3. Methodischer Fehler: Welche Studien wurden berücksichtigt und ausgewertet
Unter methodischen Limitationen der DGSP zur Übersichtsstudie von Henssler und Kollegen heißt es:
Bezüglich Limitationen in der Methodik ist es sehr wichtig zu betonen, dass die meisten Studien von der Industrie finanzierte Wirksamkeitsstudien waren, die das Auftreten von Absetz- bzw. Entzugssymptomen gar nicht spezifisch und systematisch untersucht haben.
Folglich wurden hier einfach jegliche unerwünschten medizinischen Ereignisse ganz unterschiedlicher Art und Schwere zusammengetragen, was sich auch in den großen Unterschieden der Beschwerde-Raten zwischen den Studien zeigt.
Folglich ist auch der Vergleich zwischen Placebo- und Antidepressiva-Absetzgruppe problematisch, denn hier wird das Auftreten qualitativ ganz verschiedener Phänomene verglichen (also Äpfel mit Birnen).
Im Gegensatz zur Übersichtsstudie von Henssler und Kollegen werden in der Übersichtsstudie von Davies und Read nicht ausschließlich Studien der Pharmahersteller berücksichtigt. Adäquat berücksichtigt wurden auch die größten Untersuchungen per Betroffenenbefragungen, kontrollierte Studien wurden ein- sowie Studien mit Interessenkonflikten ausgeschlossen [1]
4. Methodischer Fehler: Dauer der ausgewerteten Studien entspricht nicht der Realität
In der Stellungnahme der DGSP zu Henssler und Kollegen heißt es weiter:
Die zweite ernsthafte methodische Verzerrung ist, wie oben bereits kurz erwähnt, die kurze Dauer der meisten der eingeschlossenen Studien. Die Einnahmedauer von Antidepressiva betrug zwischen 1 bis 156 Wochen, und in fast der Hälfte der eingeschlossenen Studien waren es 12 Wochen oder weniger. Die durchschnittliche Einnahmedauer der Antidepressiva in den berücksichtigten Studien war gemittelt folglich gerade einmal 25 Wochen, das heißt, nicht einmal ein halbes Jahr.
In der realen Welt nimmt die Mehrheit der Patientinnen und Patienten ihr Antidepressivum im Durchschnitt aber über 2 Jahre ein.
Bei Davies und Read wurden im Gegensatz zu Henssler und Kollegen auch Untersuchungen berücksichtigt, die länger als 1 Jahr liefen. Bei einer Befragung von 752 Antidepressivanutzern, wovon die allermeisten das Medikament mindestens ein oder zwei Jahre einnahmen, versuchten 36% abzusetzen, scheiterten aber [5]. In einer anderen Befragung unter langjährigen Anwendern von Psychopharmaka, vor allem Antidepressiva, konnten nur 54% das Medikament komplett absetzen [6].
Fazit: Diese neue Übersichtsstudie von Henssler und Kollegen bestätigt meine Annahme, dass Psychiater und Ärzte in Deutschland kaum Wissen haben, was die körperliche Abhängigkeit von Antidepressiva, den Risiken und Nebenwirkungen, wie Akathisie (bei SSRI auch ein mögliches aber seltenes Entzugssymptom), die erhöhte Suizidalität und absolut KEIN Wissen haben, wie Antidepressiva richtig reduziert und abgesetzt werden. Wir hinken den USA und England zehn Jahre hinterher.
Ich empfehle dringend sich das notwendige Wissen aus den Foren in den USA oder Organisationen wie »Mad in America«, in Deutschland depression-heute.de, Peter Lehmann und auch über mein Infoportal anzueignen. Ich habe mich mit allen ausgetauscht. Das größte deutschsprachige Forum für Betroffene psyab.net ist auch eine wichtige Informationsquelle. Wer Englisch kann wendet sich an das survivingantidepressants.org, wie es auch Dr. Horowitz bzgl. seines Entzuges des SSRI getan hat und dann geforscht hat.
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