Buddhahand, in der rosafarbene Orchideen liegen© Jiraphan Singhaesanee | Orchid in hand image of buddh | shutterstock.com

Entzugssymptome achtsam und mitfühlend annehmen

Lesedauer: 23 Minuten

Entwurf in Bearbeitung

Zuletzt aktualisiert am 10.03.2023

Dieser Beitrag enthält mehrere Übungen, Meditationen und Anleitungen, wie Du mit plötzlich neu auftauchenden starken Entzugssymptomen umgehen kannst und wie Du bereits bestehende Entzugssymptome achtsam und mitfühlend annehmen kannst. Das braucht viel Achtsamkeit, Beharrlichkeit und Selbstmitgefühl sowie ein Umdenken, eine völlig neue Art und Weise mit Gedanken, Gefühlen und Körperempfindungen umzugehen. Dazu stelle ich Dir die »Akzeptanz- und Commitment-Therapie« (ACT) vor, eine sehr erfolgreiche neuere Verhaltenstherapie.

Wichtig: Bitte lies Dir zunächst den gesamten Beitrag durch sowie meinen medizinischen Haftungsausschluss. Nicht alle Übungen sind für jeden geeignet. Der Beitrag besteht aus drei Teilen:

Einleitung

Im ersten Teil erfährst Du, wie sich der menschliche Verstand entwickelt hat, warum die vollständige Kontrolle von Gedanken, Gefühlen und Körperempfindungen eine Illusion ist, warum »positiv Denken« nicht funktioniert und was eine »Realitätskluft« ist. Ich stelle Dir die »Akzeptanz- und Commitment-Therapie« (ACT) vor, mit Hilfe der Du eine völlig neue Art und Weise kennenlernst mit Deinen Gedanken, Gefühlen und Körperempfindungen (ganz konkret physische und psychische Entzugssymptome) umzugehen und auf der die vorgestellten Übungen beruhen.

Im zweiten Teil zeige ich Dir, wie Du mit plötzlich neu auftauchenden und starken Entzugssymptomen umgehen kannst.

Im dritten Teil erfährst Du, wie Du bereits bestehende Entzugssymptome, während und nach einem Psychopharmaka-Entzug, achtsam und mitfühlend annehmen kannst.

Du kannst auch gleich zu den Übungen gehen, aber Du wirst die Übungen viel besser verstehen, wenn Du Dir bewusst machst, warum der menschliche Verstand tut, was er tut.

Erklärungen zu den Übungen

Bevor ich Dir die Übungen zeige, ist es wichtig, zu verstehen, wie der menschliche Verstand funktioniert und warum wir nur wenig Kontrolle über unsere Gedanken, Gefühle und Körperempfindungen haben. Es ist nicht so, das wir gar keine Kontrolle darüber hätten, aber eben sehr viel weniger, als wir glauben und als die westliche Psychologie und Gesellschaft gerne behaupten. Wenn Du bereit bist, dass zu akzeptieren, was oft schon ein großes Hindernis ist, weil uns das Umdenken allgemein schwerfällt, dann wirst Du eine völlig neue und heilsamere Art und Weise kennenlernen mit Deinen Gedanken, Gefühlen und Körperempfindungen, hier ganz konkret den physischen und psychischen Entzugssymptomen, umzugehen.

In dem wunderbaren Buch Der achtsame Weg zum Selbstmitgefühl: Wie man sich von destruktiven Gedanken und Gefühlen befreit von Christopher Germer schreibt dieser:

Wenn Du etwas ablehnst, geht es in den Keller und trainiert Gewichtheben.

Dieser Satz hat sich mir tief eingeprägt, denn in den letzten Jahren habe ich gelernt, dass alles, was wir ablehnen, gegen das wir ankämpfen, dass wir zu ignorieren zu versuchen, sich umso stärker zeigt und dass dieses ablehnen, dagegen ankämpfen und ignorieren sehr viel Kraft und Energie kostet, die in einem Psychopharmaka-Entzug ohnehin schon gering ist.

Das Unbewusste kennt keine Verneinung

Hast Du je versucht, einen Ball in einem Schwimmbad oder einem See unter Wasser zu drücken? Eine ganze Zeit lang funktioniert das recht gut, aber irgendwann lassen Deine Kräfte nach. Egal wie stark Du auch versuchst den Ball unter Wasser zu halten, wie groß auch Dein Wille sein mag, Du kannst den Ball nicht länger unter Wasser halten. Das Fatale daran ist, wenn Dich Deine Kräfte verlassen, dann kommt der Ball mit umso stärkerer Wucht Dir entgegengeschossen und versetzt Dir womöglich einen heftigen Schlag ins Gesicht und verletzt Dich oder jemand anderen neben Dir.

Ähnlich ist es mit den Gedanken und Gefühlen, die wir zu unterdrücken oder zu ignorieren versuchen. Sie drängen sich erst recht in den Vordergrund. Germer schreibt:

Hat eine Idee oder Vorstellung Eingang in unser Denken gefunden, wird sie jedes Mal verstärkt, wenn wir versuchen, nicht daran zu denken. Sigmund Freud gelangte zu dem Schluss, dass das Unbewusste keine Verneinung kennt. Alles, womit wir unser Problem also bombardieren, Entspannungstechniken, Gedankenkontrolle, positive Affirmation, muss letztendlich enttäuschen, und uns bleibt nichts anderes übrig, als nach einer anderen Lösung zu suchen, um uns besser zu fühlen.

Es geht in diesen Übungen also nicht darum, die Entzugssymptome loszuwerden oder nicht mehr so stark zu empfinden, auch wenn das passieren kann, vor allem was die damit einhergehenden Gedanken und Gefühle betrifft. Wenn das geschieht, bemerken wir es und sind dankbar dafür, lassen aber los und versuchen diesen Zustand nicht festzuhalten, denn das ist nicht möglich und würde nur zu noch mehr Leid führen.

Es geht darum einen heilsameren Umgang mit Gedanken, Gefühlen und Körperempfindungen, die durch den Entzug auftauchen oder bereits da sind zu erlernen. Gedanken, Gefühle und Körperempfindungen in Form von physischen und psychischen Entzugssymptomen kommen und gehen, wie vorüberziehende Wolken. Manche gehen früher, andere bleiben länger, das kannst Du nicht ändern, das kannst Du nicht kontrollieren. Das, was Du ändern kannst, ist der Umgang damit.

Die vorgestellten Übungen und Meditationen sind aus der »Akzeptanz- und Commitment-Therapie« (ACT).

Die »Akzeptanz- und Commitment-Therapie« (ACT)

ACT wurde von dem Psychologen Steven Hayes und seinen Kollegen Kelly Wilson und Kirk Strosahl entwickelt. ACT gehört zu den neueren Verhaltenstherapien, wie z. B. auch die »Achtsamkeitsbasierte kognitive Verhaltenstherapie«, kurz MBCT und die »Dialektisch-Behaviorale Therapie«, kurz DBT. Diese Verhaltenstherapien der sogenannten »Dritten Welle« beziehen die Achtsamkeit und das Selbstmitgefühl als wesentliche Komponenten mit ein. Die Wirkung von ACT wurde durch wissenschaftliche Studien belegt. Sie hat sich in mehreren Studien als besonders erfolgreiche, weil leicht und schnell zu erlernende Therapie bewiesen.

In ACT ist es nicht wichtig, ob ein Gedanke gut oder schlecht, wahr oder unwahr, richtig oder falsch ist, sondern nur, ob ein Gedanke hilfreich ist, ein zufriedenes und erfülltes Leben zu schaffen. Mit diversen »Entschärfungstechniken« lernt man Gedanken, die nicht hilfreich sind, zu entschärfen, so dass diese nicht mit unseren Gefühlen, Körperempfindungen, auftauchenden Erinnerungen, Bildern und Filmen (das, was wir gerne »Kopfkino« nennen) »verschmelzen«, bis sie sich wie die absolute Wahrheit anhören und -fühlen.1

Man erkennt, was Gedanken wirklich sind: Worte, Bilder und Filme in unserem Kopf. Nicht mehr und nicht weniger. Im Gegensatz zu anderen Therapien werden Gedanken nicht mehr analysiert, mit der Wahrheit abgeglichen oder versucht diese durch andere positive Gedanken zu ersetzen.2

Indem man sich mit seinen Werten verbindet und bewusster im »Hier und Jetzt« lebt, ist es möglich schmerzvolle Gedanken, Gefühle und Körperempfindungen mitfühlender, achtsamer und wohlwollender anzunehmen, anstatt zu versuchen, sie zu kontrollieren oder zu vermeiden. Denn das führt meist zu noch mehr Leiden. Diese Geisteshaltung ermöglicht es, zu mehr psychologischer Flexibilität zu gelangen, um den Widrigkeiten des Lebens zu begegnen.3

Cartoon: ACT Dämonen umarmen

https://www.actmindfully.com.au

Sich wiederholende Gedanken, Bilder, Filme (das, was wir gerne »Glaubenssätze« nennen) bezeichnet man in ACT als »Geschichte«, die uns unser Verstand erzählt.

Wichtig: Damit will ich Deine Gedanken und Glaubenssätze nicht verharmlosen. Oft reagieren Menschen entsetzt und verärgert, wenn man ihnen sagt, dass ihnen ihr Verstand gerade eine »Geschichte« erzählt. Ich weiß, wie wahr sich Gedanken und Glaubenssätze anfühlen können, besonders dann wenn sie mit Gefühlen und Körperempfindungen verschmelzen und es gibt schließlich auch Gedanken, die wahr sind oder wahr werden. Der Gedanke, dass ich sterben muss, wird wahr, irgendwann, der Gedanke, dass meine Eltern sterben werden, ebenso. Solche Gedanken sind nur schwer zu entschärfen, dann kommt eine andere Strategie zum Einsatz, die »Ausdehnung«, was das ist, erfährst Du später.

In der kognitiven Verhaltenstherapie, die auch lange Zeit relativ erfolglos gemacht habe, wird einem beigebracht, unliebsame Gedanken auf Wahrheit oder Wahrscheinlichkeit zu überprüfen und negative Gedanken durch positive Gedanken zu ersetzen (In der Psychologie wird das »positive Affirmation« genannt). Das funktioniert, wenn überhaupt nur kurzfristig und kann sogar negativ sein.

Außerdem kostet es sehr viel Zeit und Energie. Ich kam mir dabei immer sehr dumm vor, weil es mir einfach nie gelingen wollte, während andere sagten, dass ihnen das sehr helfen würde.

Als ich durch Zufall auf das Buch Wer dem Glück hinterherrennt, läuft daran vorbei – Ein Umdenkbuch von Russ Harris über ACT stieß, änderte sich für mich ALLES. Es gibt Bücher, die können Dein Leben verändern, weil sie Dir eine völlig neue Sichtweise aufzeigen, die Du bisher nicht kanntest, ja Dir nicht mal vorstellen konntest. Dieses Buch tat das, es zeigte mir eine völlig neue Art und Weise mit Gedanken, Gefühlen und Körperempfindungen umzugehen. In einem der ersten Sätze in diesem Buch heißt es positiv Denken funktioniert nicht. Für mich war das eine große Erleichterung, mir viel eine schwere Last von den Schultern, ich war nicht zu dumm, es funktionierte einfach nicht.

Der menschliche Verstand bringt meist negative Gedanken hervor. Warum das so ist, das hat mit der Entwicklung des menschlichen Verstandes zu tun.

Exkursion: Entwicklung des menschlichen Verstandes

Der menschliche Verstand wurde von der Evolution so konstruiert, dass er meist negative Gedanken hervorbringt. Meist sind dies »NGG-Gedanken«, »NGG« steht für Nicht gut genug. Der Verstand hat den Urzeitmenschen durch diese »NGG-Gedanken« ständig dazu angetrieben, seine Fähigkeiten zu verbessern, neue Fähigkeiten zu erlernen und stets wachsam zu sein, alles zu einem Zweck: Um zu überleben.

Er trieb ihn dazu an, besser im Jagen zu werden (Gedanke: Du bist ein mieser Jäger), schneller wegrennen zu können (Gedanke: Du bist nicht schnell genug), besser im Feuer machen zu werden (Gedanke: Du bist unfähig, ein Feuer zu machen) oder sich einer Gruppe anzuschließen, in die man passt (Gedanke: Du bist nicht intelligent genug, um allein zu überleben). Dies war ebenfalls notwendig, denn allein überlebte ein Urzeitmensch nur wenige Tage. Es war aber nicht nur wichtig eine Gruppe zu finden, in die man passte, es war genauso wichtig in der Gruppe zu bleiben, denn der Ausschluss hätte den sicheren Tod bedeutet. Dazu war es notwendig, sich an die Gruppe anzupassen, deren Vorstellungen, Meinungen und Überzeugungen zu übernehmen, auch wenn diese nicht den eigenen entsprachen (Gedanke: Die haben Recht, Du irrst Dich).

Warum positiv Denken nicht funktioniert

Wir leben heute noch mit diesem Verstand und dem archaischen Notfallprogramm. Deshalb bringt auch heute unser Verstand meistens negative Gedanken hervor. Man kann negative Gedanken nicht durch positive Gedanken ersetzen. Russ Harris erklärt das am Beispiel eines Radios. Unsere Gedanken sind wie ein Radiosender, der rund um die Uhr läuft und der meist negative »Nachrichten« und »Geschichten« sendet und den wir nicht abschalten können. Er nennt diesen Radiosender »Ohjemine«. Würde man jetzt versuchen, diese negativen »Nachrichten« und »Geschichten« durch positive zu ersetzen, wäre das so, wie wenn man einen zweiten Radiosender einschalten würde, der die positiven »Nachrichten« und »Geschichten« sendet. Er nennt diesen Radiosender »Sonnenschein«. Nun konkurrieren Radiosender »Ohjemine« und Radiosender »Sonnenschein« in unserem Kopf um unsere Aufmerksamkeit. Hast Du mal versucht zwei Radiosendern gleichzeitig zu folgen? Wenn nicht probiere es mal aus. Du wirst gar nichts mehr verstehen.4

Russ Harris zeigt das in diesem kurzen animierten Video Radio Doom & Gloom (Radio Untergang und Düsternis)

Quelle: https://www.youtube.com/watch?v=Bu2k0EGXAVo | Sprache: Englisch | Länge: 4:07 Minuten.

Die Realitätskluft

Es gibt aber noch ein zweites Problem. Leider kann unser Verstand bis heute nicht zwischen einer echten äußeren Gefahr und inneren emotionalen Konflikten und Problemen, die durch eine »Realitätskluft« entstehen, unterscheiden. Eine Realitätskluft ist eine Kluft zwischen dem Leben, das wir haben und dem Leben, das wir gerne hätten. Jeder hat eine Vorstellung davon, wie sein Leben sein sollte, um glücklich und zufrieden sein zu können. Die Realität sieht meist anders aus.

Russ Harris beschreibt die Realitätskluft in seinem Buch Wer vor dem Schmerz flieht, wird von ihm eingeholt: Unterstützung in schwierigen Zeiten. Lass Dich bitte nicht von dem Titel abschrecken, im Original heißt es The Reality Slap How To Find Fulfilment When Life Hurts zu deutsch Die Realitätskluft – Wie Du Erfüllung findest, wenn das Leben schmerzt. Das trifft es viel besser, denn Russ Harris schreibt in diesem Buch darüber, wie er Vater eines autistischen Sohnes wird und ihm das erst Mal den Boden unter den Füßen wegzieht und wie er mit ACT damit umgehen lernt. Er zeigt, dass eine Realitätskluft manchmal ganz, manchmal zum Teil und manchmal gar nicht geschlossen werden kann, aber man selbst dann ein zufriedenes und erfülltes Leben schaffen kann. Auch ein Psychopharmaka-Entzug kann zu einer solchen Realitätskluft führen.

Wann haben Sie das letzte Mal einen Realitätsschock erlebt?:

So etwas kennen wir alle nur zu gut, diese Momente, in denen das Leben uns unvermittelt einen schmerzhaften Schlag versetzt. Das ist ein Schock, es tut weh und es bringt uns aus dem Gleichgewicht. Wir müssen uns anstrengen, um auf den Beinen zu bleiben, und manchmal stürzen wir zu Boden.

Ein Realitätsschock kann viele unterschiedliche Formen annehmen. Manchmal ist er so gewaltsam, dass er einem Faustschlag ähnelt: der Tod eines geliebten Menschen, eine schwere Erkrankung oder Verletzung, ein plötzlicher Unfall, ein Gewaltverbrechen, die Geburt eines behinderten Kindes, ein finanzielles Desaster, ein Betrug, ein Brand, ein extremer Wasserschaden oder eine andere Katastrophe. Der Schock kann aber auch etwas milder sein: ein Anflug von Neid, wenn jemand anderer etwas hat, das wir haben wollen; ein bohrendes Gefühl von Einsamkeit, wenn uns klar wird, wie isoliert wir von anderen sind; ein Ausbruch von Wut oder Ärger, weil wir schlecht behandelt werden; der kurze, scharfe Schock, wenn wir in den Spiegel blicken und uns nicht gefällt, was wir sehen; das schmerzhafte Gefühl zu scheitern, enttäuscht oder zurückgewiesen zu werden.

Manchmal verschwindet der Schock rasch in der Erinnerung. Dann ist er nur ein vorübergehender Augenblick, ein kurzes, unsanftes Erwachen. Manchmal jedoch schlägt er uns regelrecht bewusstlos, sodass wir Tage oder Wochen benommen durch die Welt gehen. Egal, welche Form dieser Schock hat, eines ist sicher: Er schmerzt. Wir erwarten ihn nicht, wir mögen ihn nicht und wir wollen ihn definitiv nicht erleiden. Außerdem ist er leider erst der Anfang. Was anschließend kommt, ist wesentlich schlimmer. Denn sobald der Schock uns aufgeweckt hat, stehen wir vor der Kluft.
Ich spreche von einer »Realitätskluft«, denn auf der einen Seite befindet sich die Realität, die wir haben, und auf der anderen die Realität, die wir wollen. Je größer die Kluft zwischen diesen beiden Realitäten ist, desto schmerzhafter sind die entstehenden Gefühle: Neid, Eifersucht, Angst, Enttäuschung, Bestürzung, Kummer, Traurigkeit, Zorn, Besorgnis, Empörung, Furcht, Schuldgefühle, Ärger, vielleicht sogar Hass, Verzweiflung oder Ekel. Und während der Schock normalerweise rasch vorüber ist, kann die Kluft tage-, wochen-, monate-, jahre-, ja selbst jahrzehntelang bestehen bleiben.

Die meisten Menschen sind schlecht dafür gerüstet, mit einer großen Realitätskluft umzugehen. Unsere Gesellschaft bringt uns nicht bei, wie man das tut. Besser gesagt bringt sie uns nicht bei, wie man effektiv damit umgeht, um ein gutes, erfolgreiches Leben führen und bleibende Erfüllung finden zu können. Wenn wir auf eine Realitätskluft stoßen, versuchen wir instinktiv, sie zu schließen. Wir treten in Aktion, um die Realität so zu verändern, dass sie mit unseren Wünschen übereinstimmt. Gelingt uns das, so schließt sich die Kluft und wir fühlen uns gut. Wir sind glücklich, zufrieden, ruhig und erleichtert. Wir haben das Gefühl, etwas erreicht zu haben. Das ist alles ganz in Ordnung, denn wenn wir tatsächlich etwas tun können, um das zu bekommen, was wir vom Leben wollen, dann ist es nur vernünftig, es zu tun – vorausgesetzt, es handelt sich nicht um etwas Kriminelles, es verstößt nicht gegen unsere Grundwerte und es schafft nicht noch größere Probleme für uns.

Aber was geschieht, wenn wir nicht bekommen können, was wir wollen? Was tun wir, wenn wir diese Realitätskluft nicht schließen können? Wenn jemand, den wir lieben, stirbt, wenn Partner oder Partnerin uns verlassen, wenn unsere Kinder ins Ausland ziehen oder wenn wir keine Kinder bekommen können, wenn eins unserer Kinder behindert ist, wenn jemand, mit dem wir Freundschaft schließen wollen, uns nicht mag, wenn wir das Augenlicht verlieren oder eine unheilbare oder chronische Krankheit bekommen, wenn wir nicht so intelligent, begabt oder gut aussehend sind, wie wir es gerne wären? Und was geschieht, wenn wir die Realitätskluft zwar schließen können, dafür jedoch sehr, sehr lange brauchen? Wie gehen wir in der Zwischenzeit damit um?

In einem Artikel habe ich einmal gelesen, die gesamte Ratgeberliteratur könne in zwei Kategorien eingeteilt werden: in Bücher, die behaupten, man könne alles im Leben erreichen, was man wolle, sofern man sich nur genügend anstrenge, und Bücher, die behaupten, man könne nicht alles erreichen, was man wolle, aber dennoch ein reiches, erfülltes Leben führen. Dieses Buch gehört eindeutig zur zweiten Kategorie.

Offen gestanden staune ich, dass es überhaupt Leute gibt, die Bücher der ersten Kategorie kaufen. Wenn man einmal einen scharfen Blick auf das Leben jedes beliebigen Menschen richtet, von Bill Gates bis Brad Pitt und von Buddha bis Jesus, von den Reichen, Berühmten und Mächtigen bis zu den Schönen, Starken und Klugen, dann sieht man, dass niemand alles bekommt, was er will. Das ist unmöglich. Während unserer Zeit auf dieser Erde erleben wir alle Enttäuschung, Frustration, Scheitern, Verlust, Ablehnung, Krankheit, Verletzung, Altern und Tod.

Wenn die Realitätskluft klein ist oder wenn es den Anschein hat, sie könnte relativ rasch geschlossen werden, gehen die meisten Menschen recht gut damit um. Aber je größer sie ist und je länger sie geöffnet bleibt, desto mehr quälen wir uns damit. Deshalb ist »innere Erfüllung« von so großer Bedeutung. Das ist ein tiefes Gefühl von Frieden, Wohlbefinden und Lebendigkeit, das wir selbst angesichts einer großen Realitätskluft empfinden können, also selbst wenn unsere Träume nicht wahr werden, wenn wir unsere Ziele nicht erreichen und wenn das Leben hart, grausam oder ungerecht ist.

Das ist etwas ganz anderes als »äußere Erfüllung«: die guten Gefühle, die wir haben, wenn wir es schaffen, die Realität an unsere Wünsche anzupassen, wenn wir die Kluft schließen, unsere Ziele erreichen und bekommen, was wir im Leben wirklich wollen. Äußere Erfüllung ist wichtig, schließlich erreichen wir nun mal gerne Ziele und erfüllen unsere Bedürfnisse, aber sie ist nicht immer möglich. (Sollten Sie übrigens der Meinung sein, sie sei doch immer möglich, dann lesen Sie eindeutig das falsche Buch. Sie sollten stattdessen eines jener Bücher lesen, die behaupten, man könne alles haben, was man wolle, indem man das Universum einfach darum bitte und daran glaube, es werde der Bitte nachkommen.)

Wie Sie inzwischen wahrscheinlich ahnen, werden wir uns in diesem Buch daher auf innere Erfüllung konzentrieren, auf ein tiefes Gefühl von Wohlbefinden und Frieden, das wir in uns selbst entstehen lassen, statt es außerhalb von uns zu suchen. Erfreulicherweise sind die Mittel dazu immer für uns verfügbar; sie sind wie eine unerschöpfliche Quelle tief in unserem Innern, aus der wir trinken können, wenn wir durstig sind. Uns darauf zu konzentrieren, bedeutet allerdings nicht, alle weltlichen Vergnügungen, Sehnsüchte, Wünsche, Bedürfnisse und Ziele aufzugeben. Wir werden uns durchaus auch damit beschäftigen, wie man die Realitätskluft schließt, falls sie tatsächlich geschlossen werden kann. Es bedeutet vielmehr, dass unser Gefühl von Wohlbefinden und Lebendigkeit nicht mehr von Dingen abhängt, die außerhalb von uns sind, und dass wir selbst angesichts von großem Schmerz, von Furcht, Verlusterfahrungen und Not ein Gefühl von Frieden und Trost in uns finden können.
Quelle: Wer vor dem Schmerz flieht, wird von ihm eingeholt von Russ Harris

Das »archaische Notfallprogramm«

Bei einer echten äußeren Gefahr schaltete sich sofort das »archaische Notfallprogramm« ein, dass den Urzeitmensch auf drei Überlebensstrategien durch die automatisierte Bereitstellungsreaktion des Körpers blitzschnell vorbereitete:

Fight, Flee, Freeze,

also kämpfen, wenn das nicht möglich war oder aussichtslos erschien: fliehen, war auch das nicht möglich blieb noch das Totstellen/ohnmächtiges Erstarren. Die Bereitstellungsreaktion führt zu verschiedenen Körperreaktion u.a. wird die Verdauung eingestellt, um Energie zu sparen, die z.b. das Herz benötigt um mehr Blut in wichtige Organe und Muskeln zu pumpen, was den Herzschlag stark erhöht. Außerdem werden alle Sinne geschärft (u. a. werden die Pupillen auf Weitsicht eingestellt), um eine Bedrohung rechtzeitig zu erkennen. All dies geschieht, um den Körper auf Flucht oder Kampf vorzubereiten.

Da der Verstand zwischen einer echten Gefahr und einer Realitätskluft nicht unterscheiden kann, bietet er auch für diese »Gefahren« das archaische Notfallprogramm inklusive der Bereitstellungsreaktion des Körpers an. Wir erleben das dann häufig als Panikattacke. Wie bereits erwähnt bietet uns das archaische Notfallprogramm drei Möglichkeiten an um mit jeder Gefahr, sei es eine echte, unmittelbare Bedrohung des Lebens oder eine Realitätskluft (die meist keine echte Bedrohung für das Leben darstellt, es sei denn es handelt sich um eine schwere Erkrankung, wie Krebs) angemessen umzugehen:

Kämpfen, Fliehen oder Totstellen/ ohmächtiges Erstarren. Bei einem inneren emotionalen Konflikt wie einer Realitätskluft macht sich dies meist zu erst durch eine starke als negativ empfundene Emotion bemerkbar:

  • Ärger, Wut steht dann für die Bereitstellungsreaktion kämpfen, meist weil ein wichtiges Ziel blockiert ist,
  • Angst steht für die Bereitstellungsreaktion fliehen und
  • Depression steht für die Bereitstellungsreaktion Totstellen/ohnmächtiges Erstarren.

Diese Emotionen lösen die körperliche Bereitstellungsreaktion des Körpers blitzschnell aus, was dann zu bestimmten körperlichen Symptomen führt, die man typischerweise auch bei einer Panikattacke empfindet. Eine Panikattacke ist nichts anderes, als die Aktivierung der körperliche Bereitstellungsreaktion des archaischen Notfallprogramms.

Im Folgenden einige typische Symptome einer Panikattacke und ihre Entsprechung in der körperlichen Bereitstellungsreaktion:

Symptom körperliche Bereitstellungsreaktion Vorbereitung auf
Derealisation: Verschwommenes Sehen, unmittelbare Umgebung erscheint irreal Pupillen werden automatisch auf Weitsicht eingestellt, um eine Gefahr frühzeitig zu erkennen Kampf, Flucht
Herzrasen, beschleunigter, erhöhter Herz- und Pulsschlag das Herz pumpt verstärkt Blut in wichtige Organe und die Muskeln Kampf, Flucht
Übelkeit, Erbrechen, Durchfall, Verstopfung Verdauung wird eingestellt, um Energie zu sparen Kampf, Flucht
Muskelkrämpfe, -zittern, -schmerzen Anspannung der Muskulatur Kampf, Flucht
Atemnot, Schwindel optimale Sauerstoffversorgung des Körpers, wie der Lungen durch »Hyperventilation« Flucht
Erstarren, stellenweise oder komplette Lähmung des Körpers, Bewegungsunfähigkeit Energie sparen, unbemerkt bleiben Totstellen, da Kampf oder Flucht aussichtslos sind

 

Neurobiologische Sichtweise

Aus neurobiologischer Sicht geht jede echte Bedrohung sowie jeder innere emotionale Konflikt, jedes Problem, das auf einer Realitätskluft beruht mit einer Inkohärenz im Gehirn einher, also einer Nicht-Übereinstimmung von den eigenen Erwartungen und Vorstellungen, dem was wir uns wünschen und der Realität, wie sie ist. Um das zu verarbeiten benötigt unser Gehirn sehr viel Energie. Der Lieblingszustand unseres Gehirns ist aber Kohärenz, also Übereinstimmung (hier die Übereinstimmung der eigenen Vorstellungen und Wünsche mit der Realität), da es so am meisten Energie spart. Auch dies hat wiederum mit der Evolution und dem Überleben des Urzeitmenschen zu tun. Zum Überleben war es notwendig Energie einzusparen, dort wo sie nicht für die Bereitstellungsreaktion des archaischen Notfallprogramms zur Vorbereitung auf Kämpfen, Fliehen oder Totstellen benötigt wurde, wie die Verdauung, um sie z.B. den Muskeln zur Verfügung zu stellen. Der Wunsch, das Bedürfnis nach Übereinstimmung zwischen dem Leben, das wir haben und dem das wir gerne hätten macht also auch neurobiologisch Sinn. Das ist stark vereinfacht, wer sich darüber detaillierter informieren möchte, dem empfehle ich eines meiner Lieblingsbücher dazu, Was wir sind und was wir sein könnten – ein neurobiologischer Mutmacher des Neurobiologen Gerald Hüther.

In diesem humorvollen und klugen animierten Video erklärt Russ Harris, wie sich der menschliche Verstand entwickelt hat und warum er tut, was er tut und dass wir ihm dafür dankbar sein sollten. Er ist nicht unser Feind sondern unser Freund. Er tut nur das, wozu er von der Evolution geschaffen wurde.

Quelle: https://www.youtube.com/watch?v=kv6HkipQcfA | Sprache: Englisch | Länge: 3:37 Minuten.

Achtsamkeit ist eine Fertigkeit, die ständig trainiert werden muss

Bevor ich Dir nun die Achtsamkeitsübungen vorstelle, ist es wichtig zu wissen, dass Achtsamkeit eine Fertigkeit ist, die jeder erlernen kann, die aber wie ein Muskel ständig trainiert werden muss, damit sie Dir stets zur Verfügung steht. Wenn Du einen Muskel nicht mehr trainierst, wird er sich relativ schnell zurückbilden, so ist es mit der Achtsamkeit auch. Es ist eine vergängliche Fertigkeit, die wieder verschwindet, wenn Du sie nicht ständig trainierst.

Damit Du die vorgestellten Achtsamkeitsübungen auch dann anwenden kannst, wenn ein als bedrohlich empfundenes Entzugssymptom plötzlich auftritt oder sich ein bereits bestehendes vertärkt, ist es erforderlich, diese Übungen in einer Zeit zu trainieren, in der es Dir relativ gut geht, in der Du dazu noch in der Lage bist. Ist das Entzugssymptom erst mal da, dann kann es Dich überrollen wie ein Tsunami, Du kannst von Gedanken und starken Gefühlen, wie Angst und Panik überwältigt werden und Du wirst die Achtsamkeitsfertigkeiten nicht anwenden können, wenn Du sie nicht regelmäßig zuvor trainiert hast, am besten täglich.

Wichtig: Es ist nicht beabsichtig Dir Angst zu machen. Entzugssymptome können auftreten, müssen aber nicht. Wenn man beim Reduzieren und Absetzen von Psychopharmaka einige Regeln beachtet, können Entzugssymptome evtl. ganz vermieden oder zumindest in Häufigkeit, Dauer und Schwere gemildert werden. Bitte lies dazu den folgenden Beitrag über die 10%-Methode, die Standardmethode zum Reduzieren und Absetzen von Psychopharmaka:

Psychopharmaka erfolgreich reduzieren und absetzen mit der 10 %-Methode

Plötzlich neu auftretende und starke Entzugssymptome

Kaum etwas empfinden Menschen als so bedrohlich und ängstigend wie psychische und physische Erscheinungen, die plötzlich wie aus dem nichts auftauchen und die wir noch nicht kennen. Während und nach einem Psychopharmaka-Entzug können Entzugssymptome von einen auf den anderen Moment auftauchen oder bereits vorhandene sich verstärken, z.B. nach einer Dosisreduktion, auch dann noch, wenn seit der Reduktion mehrere Tage oder Wochen vergangen sind in denen keine Entzugssymptome vorkamen.

Als besonders bedrohlich empfand ich dabei psychische Entzugssymptome wie Halluzinationen, Desorientierung, Derealisationserscheinungen und gewaltsame Albträume, bei denen ich öfters aus dem Bett gefallen bin. Diese Entzugssymptome haben regelmäßig zu heftigen Panikattacken geführt oder Panikattacken selbst traten plötzlich als Entzugssymptom auf.

Damit muss in einem Entzug stets gerechnet werden, denn ein Entzug hält sich an keine Regeln. Selbst wenn ein Entzugssymptom irgendwann von allein verschwindet, kann es Wochen oder Monate später erneut auftreten.

Wichtig: All diese Symptome sind Symptome der Heilung. Psychopharmaka verursachen ein biochemisches Ungleichgewicht an Botenstoffen, die wichtige (neuro)-biologische Funktionen im menschlichen Körper übernehmen. Das Gehirn muss erst wieder ins Gleichgewicht kommen, dabei sind Schwankungen normal. Um zu verstehen, was bei einem Psychopharmaka-Entzug im Gehirn geschieht, lies bitte den folgenden Beitrag:

Was bei einem Psychopharmaka-Entzug im Gehirn geschieht?

Den Anker werfen

Wenn ein Schiff plötzlich in Seenot gerät, dann muss zu erst der Anker geworfen werden, damit sich das Schiff stabilisieren kann. So ist es auch bei plötzlich neu auftauchenden starken oder sich verstärkenden Entzugssymptomen. Um handeln zu können, ist es wichtig sich sofort fest im »Hier und Jetzt« zu verankern. Das geschieht in folgenden Schritten:

  1. Kontakt mit dem Körper herstellen und andere Körperhaltung einnehmen.
  2. Aufmerksamkeit auf den Atem richten und drei bewusste Atemzüge nehmen.
  3. Gedanken, Gefühle und Körperempfindungen bewusst bemerken und benennen.
  4. Selbstmitfühlend sein.
  5. Kontakt zur Außenwelt herstellen über die Sinne (5-4-3-2-1).
  6. Werte bewusst machen: Was ist mir jetzt wichtig?
  7. Effektives Handeln. Tun!

Im Folgenden stelle ich Dir die einzelnen Schritte vor. Als Grundlage dient die Übung Sei wie ein Baum aus dem Buch Wer vor dem Schmerz flieht, wird von ihm eingeholt von Russ Harris, die ich mit anderen Übungen verbunden habe. Sie dauert etwa 3-6 Minuten. Mache diese Übung mehrmals täglich oder so oft, wie Du kannst.

Stelle Dir einen mächtigen Baum vor. Seine langen Wurzeln reichen tief in den Boden hinein, sein stabiler Stamm wächst aufwärts und seine Äste strecken sich in den Himmel. Lass Dich von diesem Bild inspirieren, während Du den angegebenen Schritten folgst.

Kontakt mit dem Körper herstellen und andere Körperhaltung einnehmen

Stelle die Füße fest auf den Boden. Entwickle ein Gefühl für diesen Boden, der sich unter Dir befindet, und drücke die Füße behutsam dagegen. Spüre den Druck des Bodens gegen die Fusssohlen und die leichte Spannung in Deinen Beinen. Du kannst die Füsse ruhig auch etwas fester in den Boden schieben und die Beinmuskulatur anspannen, je nachdem wie stark Du mit Deinen Gedanken, Gefühlen und den Entzugssymptomen verschmolzen bist. Achte aber darauf, dass Du nicht verkrampfst und keine Schmerzen dabei hast. Richte die Wirbelsäule auf und lasse die Schultern sinken, so dass Du in einer möglichst aufrechten Haltung bist. Spüre, wie die Schwerkraft an Deiner Wirbelsäule »hinabströmt« in Deine Beine und Füße und in den Boden darunter. Es ist, als würdest Du in der Erde Wurzeln schlagen und Dich dort fest »einpflanzen«. So ein Baum steht immer an der gleichen Stellen und trotzt jedem Sturm, er ist fest im Boden verankert.

Aufmerksamkeit auf den Atem richten

Lenke Deine Aufmerksamkeit nun langsam von den Wurzeln auf den Stamm, der dem Rumpf Deines Körpers, bestehend aus Bauch und Brust, entspricht. Nimm weiterhin wahr, wie die Füße auf dem Boden stehen, konzentriere Dich aber hauptsächlich auf den Rumpf. Setze Dich auf oder stelle Dich gerade hin und achte auf die Veränderung der Haltung.

Übung: Atempause

Diese Übung nennt sich Atempause, sie wird so in den Achtsamkeitszentren des buddhistischen Lehrmeisters Thich Nhat Hanh praktiziert. Suche Dir eine Stelle, an der Du den Atem beobachten kannst, also z. B. der Brustkorb, der sich hebt und senkt oder die Nase, durch die die Luft ein- und wieder ausströmt. Schließe Deine Augen (Du kannst sie aber auch gerne offen lassen und einen Punkt vor Dir fixieren). Dann atmest Du 3 Mal tief ein und wieder aus. Einatmen durch die Nase und ausatmen durch den Mund, versuche doppelt so lange auszuatmen, wie Du einatmest, z.B. in dem Du die Lippen nur leicht öffnest. Dann sagst Du innerlich folgende Sätze zu Dir:

1. Einatmen: Ich atme ein und weiß, dass ich einatme oder kurz Einatmen.

1. Ausatmen: Ich atme aus und weiß, dass ich ausatme oder kurz Ausatmen.

2. Einatmen: Ich beruhige meinen Körper und Geist oder kurz Beruhigen.

2. Ausatmen: Ich lasse los und lächle oder kurz Loslassen und Lächeln. (Versuche dabei bitte wirklich zu lächeln. Es hat einen sehr positiven Effekt. Es entspannen sich Hunderte von Muskeln in unserem Körper, wenn wir unser Gesicht zum Lächeln bringen. Thich Nhat Hanh nennt das »Mund-Yoga«. Neuere Untersuchungen haben tatsächlich gezeigt, dass sich die Wirkungen in unserem Nervensystem, die mit echter Freude verbunden sind, auch dann einstellen, wenn wir unsere Gesichtsmuskeln den Ausdruck der Freude annehmen lassen)

3. Einatmen: Dieser Moment.

3. Ausatmen: Mitfühlender Moment. (Hier kannst Du variieren, je nachdem, wie der Moment ist: wundervoller Moment, friedvoller Moment, achtsamer Moment, glücklicher Moment, Moment des Innehaltens, wertvoller Moment, bewusster Moment usw.)

Wenn Du Dich in einer schwierigen, schmerzhaften Lage befindest, fällt es schwer, zu sagen wundervoller Moment, dann kannst Du diesen Satz so anpassen, das er sich für Dich stimmig anhört. Ich sage dann oft:

Wertvoller Moment.
Achtsamer Moment.
Wichtiger Moment.
Erkenntnisreicher Moment.

Je nachdem, wie leidvoll die Situation ist, kannst Du es auch direkt benennen, indem Du sagst:

Leidvoller Moment.
Schmerzhafter Moment.
Dieser Moment tut weh.

Wiederhole dies einige Male. Dehne die Wahrnehmung dann aus, sodass Du gleichzeitig den gesamten Rumpf erfasst – Lunge, Brust, Schultern und Bauch.

Gedanken, Gefühle und Körperempfindungen bewusst bemerken und benennen

Scanne nun den Körper von Kopf bis Fuss und bemerke, wo im Körper Du das Entzugssymptom am stärksten wahrnimmst. Spüre in den Körper hinein. Achte darauf, welche Gedanken Du hast. Damit Du nicht mit den Gedanken verschmilzt, sage Ich habe den Gedanken dass …, damit machst Du Dir bewusst, dass Deine Gedanken nur Worte in Deinem Kopf sind. Dann benenne, was Du spürst. Das Benennen ist ein wichtiger Schritt. Wenn Du etwas benennst, hat es einen Namen, es ist dann nichts Unbekanntes mehr und verliert dadurch oft seine Bedrohung. Du kannst, je nachdem, was Dir passend erscheint, Folgendes sagen:

Gefühl/Wahrnehmung:
  • Da ist Leid.
  • Da ist Angst, da ist Traurigkeit, da ist Wut …, das ist ein Entzugssymptom.
  • Das fühlt sich unruhig, angespannt … an, das ist ein Entzugssymptom.
  • Da fühle ich ein Kribbeln, Kälte, Wärme, innere Unruhe, Anspannung … , das ist ein Entzugssymptom.
Körperempfindung:
  • Da ist Schmerz, das ist ein Entzugssymtom.
  • Da ist Leid, das ist ein Entzugssymtom.
  • Da ist Panik, das ist ein Entzugssymptom.
  • Wenn Du Taubheit empfindest, dann sage: Da ist Taubheit, das fühlt sich taub an, das ist ein Entzugssymptom.
Direkt benennen, wenn möglich:
  • Da ist eine Enge in der Brust, das ist ein Entzugssymtom.
  • Da ist Muskelanspannung, das ist ein Entzugssymtom.
  • Da ist Übelkeit, Bauchschmerzen, -krämpfe, das ist ein Entzugssymtom.
  • Da ist Schwindel, das ist ein Entzugssymtom.
  • Da ist Atemnot, das ist ein Entzugssymtom.
  • Ich bekomme keine Luft mehr, ich hyperventiliere, das ist ein Entzugssymptom.

Mit der Ergänzung das ist ein Entzugssymptom, machst Du Dir bewusst, dass es »nur« ein Entzugssymptom ist, es ist nichts Gefährliches oder Bedrohliches, auch wenn Du es so empfindest. Wie erwähnt, verliert es an Bedrohung, wenn Du ihm einen Namen gibst.

Selbstmitfühlend sein

Im nächsten Schritt schenkst Du Dir Selbstmitgefühl. Wenn wir großes Leid erfahren, neigen wir dazu hart zu uns zu sein. Ganz besonders, wenn wir emotionales Leiden erfahren verbunden mit negativen Körperempfindungen, hier Entzugssymptomen. Wir machen uns Vorwürfe, wie wir nur so dumm, so naiv sein konnten diese(s) Medikament(e) zu nehmen, einem Psychiater zu vertrauen, glauben konnten, dass sie die nötige Kompetenz hätten, uns haben überreden lassen, es doch mal zu versuchen, wo alles andere nicht geholfen hat. Nichts davon ist heilsam, es gab einen guten Grund, warum Du Dich in Deiner Not an einen Psychiater, Arzt, eine Klinik gewendet hast und in deren vertrauensvolle Behandlung begeben hast, es ist nicht Deine Schuld. Es ist oft nicht mal deren Schuld, denn sie wussten es einfach nicht besser, sie haben gesehen, wie sehr Du leidest und wollten Dir helfen.

Andere machen ihrem Körper Vorwürfe, was er ihnen das gerade antut, warum er nicht einfach funktioniert? Fragen sich, warum andere keine Entzugssymptome beim Absetzen haben und geben sich selbst noch die Schuld, dass sie Entzugssymptome haben, dass sie aus Unwissenheit zu schnell reduziert oder abgesetzt haben. Nichts davon ist hilfreich, das einzige, dass Dir hilft ist mitfühlend und freundlich zu Dir und Deinem Körper zu sein. Dein Körper ist Dein Freund, er tut Dir das nicht an, um Dir weh zu tun, Dich zu ärgern, er leidet selbst.

Wenn Du ein Bild aufhängen willst und einen Nagel in die Wand schlägst und aus Versehen Deinen Daumen statt den Nagel triffst, dann würdest Du niemals auf die Idee kommen und noch mal mit dem Hammer auf den schon verletzen Daumen zu schlagen, nur weil Du so dumm, so unachtsam warst den Nagel zu treffen. Du würdest den Daumen kühlen und die Wunde versorgen. Gerade weil wir Leiden sollten wir mitfühlend und freundlich zu uns sein.

Lege nun eine Hand auf Deinen Herzbereich und die andere auf die Stelle, an der Du den Schmerz, das Entzugssymptom oder die Emotion besonders stark wahrnimmst. Stelle Dir vor, es sei eine mitfühlende Hand, eine heilende Hand, die Hand eines geliebten Menschen oder die Pfote/Tatze eines geliebten Haustieres. Es kann auch Buddha oder Jesus sein.

Wenn Du Taubheit spürst, dann lege Deine Hand auf den Körperteil, der am taubsten ist. Lasse die Hände leicht sanft auf Deinem Körper liegen und spüre sie auf der Haut oder auf Deiner Kleidung. Spüre auch die Wärme, die von der Handfläche in den Körper strömt.

Stelle Dir nun vor, wie Dein Körper rund um diesen Schmerz weicher wird, wie er sich lockert, sich entspannt und Raum schafft. Falls Du Dich taub fühlst, so lockert und löst sich alles rund um die taube Stelle. Und wenn Du weder Schmerz noch Taubheit empfindest, dann stelle Dir vor, dass sich auf magische Weise Dein Herz öffnet.

Halte Deinen Schmerz oder Deine Taubheit ganz sanft, wie einen Schmetterling in Deiner Hand.

Erfülle diese sanfte Handlung mit Fürsorglichkeit und Wärme, so als würdest Du Dich um eine Person oder ein geliebtes Haustier kümmern, die/das Dir wichtig ist.

Lasse Freundlichkeit von Deinen Fingern in Deinen Körper strömen.

Sitz eine Weile so da, mit Dir selbst verbunden, liebevoll, tröstend und unterstützend.

Setze dies fort, solange Du willst – fünf Sekunden oder fünf Minuten, das ist egal.

Worauf es ankommt, ist der freundliche, liebevolle Ausdruck, während Du diese Geste machst, nicht deren Dauer.

Die folgende Meditation eignet sich besonders gut, sich und anderen Mitgefühl zu schenken, sich mit anderen Leidenden verbunden zu fühlen.

Praxis der liebenden Güte

In solchen Momenten ist es wichtig, dass Du fürsorglich mit Dir umgehst, dass Du diesen Moment annimmst, so wie er ist (ich weiß, wie schwer das ist, versuche es, so gut es geht). Um Deine Absicht in diesem Moment fürsorglich zu Dir zu sein zu bekräftigen, kannst Du »Sätze der liebenden Güte« innerlich zu Dir sagen. Diese Sätze stammen aus der »Mettâ-Meditation«, auch »Herzensgüte« oder »liebende Güte« genannt. »Mettâ« bedeutet »allumfassende, grenzenlose Liebe«. Diese Meditation dient dazu mitfühlender und freundlicher mit sich selbst und anderen umzugehen und den Kreis der eigenen liebenden Güte (sobald diese vorhanden ist) zu erweitern, bis er alle Lebewesen umfasst, auch diejenigen, die anderen oder Dir Leid zugefügt haben oder zufügen. Wir erkennen dann, dass sie dies tun, um ihr eigenes Leid los zu werden oder weil sie selbst nie Liebe und Mitgefühl erfahren haben.

Mache Dir bewusst: Alle Lebewesen wollen frei von Leid sein, auch diejenigen die anderen Leid zufügen. So wird es uns möglich, mit jeder Person mitfühlend zu sein.

Die Mettâ-Meditation ist für mich die wichtigste Meditation, sie ist sehr heilsam, denn wir fühlen uns dabei mit anderen leidenden Lebewesen verbunden und erkennen, dass ich nicht der Einzige bin, der gerade so leidet, denn das denken und glauben wir all zu oft. Eine falsche Wahrnehmung, die in die Isolation führen kann. Auch andere befinden sich gerade in einem schlimmen Entzug. Mit dieser Meditation kannst Du Dich mit ihnen verbunden fühlen. Hier findest Du eine Anleitung dieser wundervollen Meditation:

»Anleitung: Meditation der liebenden Güte«

Mettâ-Sätze, die ich sage, wenn ich Leid und Schmerz direkt erfahre:

Möge ich liebevoll und freundlich zu mir sein.
Möge ich mitfühlend mit mir sein.

Mettâ-Sätze, die ich sage, um mich mit anderen zu verbinden:

Mögen wir alle sicher und geborgen sein.
Mögen wir alle gesund sein.
Mögen wir alle in Frieden sein.
Mögen wir alle achtsam und mitfühlend sein zu uns und zu anderen.
Mögen wir alle mit Leichtigkeit und Gelassenheit leben.
Mögen wir alle glücklich und zufrieden sein.

Kontakt zur Außenwelt herstellen über die Sinne (5-4-3-2-1)

Wie die Äste eines Baums sich in den Himmel strecken, so streckst Du Dich nun in die Welt hinein, die Dich umgibt. Aktiviere alle fünf Sinne und sende diese in alle Richtungen. Nimm mit Neugier 5 Dinge wahr, die Du siehst, 4 Dinge, die Du hörst, 3 Dinge, die Du riechst, 2 Dinge, die Du spürst (z.B. die Arme, die auf den Oberschenkeln ruhen, die Füsse, die den Boden berühren) und eine Sache, die Du schmeckst. Nehmen weiterhin auch die Wurzeln, den Stamm und den im Hintergrund spürbaren Rhythmus des Atems wahr, richte Deine Aufmerksamkeit jedoch hauptsächlich auf die Umgebung. Entwicke ein Gefühl dafür, wo Du bist und was Du gerade tust (diese Übung machen). Rieche und schmecke die Luft, während Du sie einatmest. Achte beim Wahrnehmen der Dinge mit den Sinnen auf deren Größe, Form, Farbe, Helligkeit und Struktur.

Werte bewusst machen: Was ist mir jetzt wichtig?

Jetzt ist es wichtig, sich bewusst zu machen, warum mache ich diesen Entzug, was kann ich dadurch gewinnen, wofür möchte ich das durchstehen, was ist mir jetzt in diesem Moment wichtig, wie möchte ich mich im Angesicht dieser Realitätskluft jetzt mir und meinem Körper gegenüber verhalten, was würde mir jetzt gut tun, was kann ich jetzt konkret tut, damit es mir besser geht? Das kannst Du Dir bewusst machen, wenn Du Deine Werte kennst. Werte sind wichtig, sie drücken aus, was uns im Leben wirklich wichtig ist, sie sagen etwas darüber aus, was für ein Mensch wir sein wollen, wofür wir in diesem Leben stehen wollen.

Bevor Du diese Übungen machst, mache Dir zu erst Deine Werte bewusst, lies dazu den folgenden Beitrag:

Wie Du Dir Deine Werte bewusst machst, um ein erfülltes und wertvolles Leben zu schaffen

Effektives Handeln. Tun!

Jetzt klopfe Dir mal selbst sanft auf die Schulter, denn Du hast soeben vielleicht zum ersten Mal Deine Entzugssymptome bewusst wahrgenommen und bist ihnen mit Mitgefühl begegnet. Vielleicht magst Du aufschreiben, was passiert ist, was diese Übung bewirkt hat, welche Werte Du gerade gelebt hast (ich empfehle ein Tagebuch zu führen, wie in dem Beitrag über Werte bewusst machen gezeigt). Dann löse Dich langsam davon. Jetzt bist Du wieder in der Lage effektiv zu handeln und kannst nun das tun, was Du gerne tun möchtest. Widme Dich dem, was Du jetzt tust mit Deiner ganzen Aufmerksamkeit und mache Dir bewusst, welche Werte Du damit verbindest.

Vermutlich wirst Du festgestellt haben, dass Dein Kopf Dich trotz bester Absichten wiederholt aus der Übung gezogen hat; er hat Dich an sich gerissen und entführt, ohne dass Du das auch nur wahrgenommen hättest. Sollte das nicht geschehen sein, dann hattest SDu entweder Glück oder beherrschst diese Fertigkeit schon gut. Es ist völlig normal, dass unser Geist immer wieder abschweift, wenn das geschieht, bemerke es, benenne die Geschichte, den Gedanken (Ich habe den Gedanken, das …) und lenke Deine Aufmerksamkeit wieder sanft auf den Atem oder das, was Du mit den Sinnen wahrnimmst. Es gibt noch eine Reihe weiterer Techniken, um Gedanken zu entschärfen, diese werden in den erwähnten Büchern von Russ Harris vorgestellt, der folgendes dazu sagt:

Selbst wenn das anfangs nur wenig zu bewirken scheint, geben Sie nicht auf! Mit der Zeit wird es Ihnen sehr viel bringen. Und falls Ihr Kopf ungeduldig auf Ergebnisse warten sollte, denken Sie an diese Worte des großen schottischen Autors Robert Louis Stevenson: Beurteilt jeden Tag nicht nach der Ernte, die ihr einbringt, sondern nach den Samen, die ihr pflanzt.

Bereits existierende Entzugssymptome achtsam und mitfühlend annehmen

Bei bereits existierenden Entzugssymptomen geht es darum, diese loszulassen, d.h. da sein lassen können. Dafür eignet sich die Ausdehnung, eine weitere Übung aus der ACT. Außerdem stelle ich Dir noch einige andere Übungen und Meditationen vor, die Dir helfen sollen zu entspannen und Stress zu reduzieren. Das zentrale Nervensystem ist im Entzug extrem überreizt und reagiert sehr empfindlich, daher ist Stressreduzierung sehr wichtig.

Ausdehnung

in Bearbeitung

Ultradiane Heilreaktion

Die Selbstheilungskräfte von Körper und Geist aktivieren durch die natürliche ultradiane Heilreaktion

Progressive Muskelentspannung

in Bearbeitung

Meditation der liebenden Güte

Anleitung: Praxis der »Liebenden Güte«

Übung: 10 schlimmme Gedanken

10 schlimme Gedanken und was Deine Werte damit zu tun haben

Übung: Fingerfalle

Was eine chinesische Fingerfalle mit Deinen Ängsten zu tun hat

Übung: Atempause

»Atme – Du lebst.« Kurze Atem-Meditation für den Alltag

Übung: Zentrierung

Übung: Zentrierung bei Entzugssymptomen

Literatur und Links

in Bearbeitung

Aloha

Dir hat dieser Beitrag gefallen?

Veröffentlicht von

Mein Name ist Markus Hüfner. Ich bin Blogger, Webdesigner und Künstler. In diesem Blog schreibe ich über meine Erfahrungen mit der Heilkraft der buddhistischen Psychologie und dem richtigen Reduzieren und Absetzen von Psychopharmaka auf Stand der aktuellen Wissenschaft.