Im British Medical Journal erschien am 5. Dezember 2023 (Vol. 363, S. 2730) die Aufforderung Politicians, experts, and patient representatives call for the UK government to reverse the rate of antidepressant prescribing (Politiker, Experten und Patientenvertreter fordern die britische Regierung auf, die Verschreibungsrate von Antidepressiva zu senken. Die Aufforderung wurde von mehr als 30 namhaften Psychiatern, Wissenschaftlern und Vorsitzenden von relevanten Organisationen und Personen im psychosozialen Bereich unterzeichnet.
Um Aktionen wie die britische zu initiieren, hat der Sozialwissenschaftler, Autor und Verleger Peter Lehmann den Artikel aus dem British Medical Journal ins Deutsche übersetzt. Er würde sich freuen, wenn er flächendeckend verbreitet wird, dieser Bitte komme ich hiermit gerne nach. Er sagt darin:
Werden sich auch in Deutschland, Österreich und der Schweiz Persönlichkeiten und Organisationen im psychosozialen Bereich angesprochen fühlen, eine ähnliche Aktion in Richtung ihrer nationalen Regierungen zu starten? Im deutschsprachigen Raum sind die Steigerungsraten kaum anders als in Großbritannien.
Der übersetzte Artikel ist auf der Website des »Antipsychiatrieverlages« von Peter Lehmann als PDF-Dokument zum herunterladen oder drucken bereitgestellt:
Der englische Originaltext kann hier als PDF-Dokument heruntergeladen werden:
Der Fachausschuss Psychopharmaka der »DGSP (Deutsche Gesellschaft für Soziale Psychiatrie)« hat dazu ein Begleitschreiben veröffentlicht, in dem, ich zitiere:
Akteure des Gesundheitssystems aufgefordert werden, dem Missstand des undifferenzierten Einsatzes von Antidepressiva entgegen zu wirken.
Das vollständige Begleitschreiben der DGSP kann hier als PDF-Dokument gelesen und heruntergeladen werden:
Begleitschreiben zum britischen Aufruf Antidepressiva
Nachfolgend der vollständige Beitrag von Peter Lehmann mit freundlicher Genehmigung diesen hier zu veröffentlichen:
Aufforderung von PolitikerInnen, ExpertInnen und PatientenvertreterInnen an die britische Regierung, die Verschreibungsrate von Antidepressiva zu senken (1)
Wir, eine Gruppe von MedizinerInnen, ForscherInnen, PatientenvertreterInnen und PolitikerInnen, fordern die britische Regierung auf, sich zu einer Umkehr der Verschreibungsrate von Antidepressiva zu verpflichten.
In den letzten zehn Jahren haben sich die Verschreibungen von Antidepressiva in England fast verdoppelt: von 47,3 Millionen im Jahr 2011 auf 85,6 Millionen im Jahr 2022/23. Mehr als 8,6 Millionen Erwachsene in England bekommen sie inzwischen jährlich verschrieben (fast 20% der Erwachsenen) (»NHS Business Services Authority« 2023), und die Verschreibungen werden in den nächsten zehn Jahren weiter steigen.
Darüber hinaus hat sich die durchschnittliche Einnahmedauer eines Antidepressivums zwischen Mitte der 2000er-Jahre und 2017 verdoppelt, so dass etwa die Hälfte der PatientInnen heute als LangzeitanwenderInnen eingestuft wird (NHS Digital 2017). In Schottland, Wales und Nordirland sind die Verschreibungsraten für Antidepressiva ähnlich hoch.
Der zunehmende Langzeitkonsum wird mit zahlreichen unerwünschten Wirkungen in Verbindung gebracht darunter:
- Gewichtszunahme,
- sexuelle Funktionsstörungen,
- Blutungen,
- Stürze und
- bei einigen PatientInnen schlechtere Langzeitergebnisse.
Etwa die Hälfte der PatientInnen leidet unter Entzugserscheinungen, wobei fast die Hälfte der PatientInnen ihre Symptome als schwerwiegend bezeichnen und ein erheblicher Teil von diesen über mehrere Wochen, Monate oder länger unter dem Entzug leidet (siehe Beitrag Davies und Read 2018).
Die zunehmende Verschreibung von Antidepressiva geht nicht mit einer Verbesserung der psychischen Gesundheit der Bevölkerung einher. Diese hat sich einigen Berechnungen zufolge mit der zunehmenden Verschreibung von Antidepressiva verschlechtert (Middleton und Moncrieff 2011).
Es stellt sich die Frage, inwieweit die schlechten Ergebnisse für viele Gruppen durch solche unerwünschten Wirkungen und die geringe Wirksamkeit von Antidepressiva begünstigt werden?
Mehrere Meta-Analysen haben gezeigt, dass Antidepressiva bei allen PatientInnen – mit Ausnahme derjenigen mit schwersten Depressionen – keinen klinisch bedeutsamen Nutzen im Vergleich zu Placebos haben (Kirsch et al. 2005), weshalb das »National Institute for Health and Care Excellence« in seinen Leitlinien darauf hinweist, dass Antidepressiva bei weniger schweren Depressionen nicht routinemäßig als Erstbehandlung verschrieben werden sollten, wobei jedoch die Bedeutung der gemeinsamen Entscheidungsfindung gewahrt bleibt.
Trotzdem bleibt die Verschreibungsrate an PatientInnen mit leichten und mittelschweren Depressionen nach wie vor hoch. Eine Studie mit Daten aus der Primärversorgung im Vereinigten Königreich ergab, dass 69% der diagnostizierten Depressionen bei Menschen über 65 Jahren einen leichten Schweregrad aufwiesen (Coupland et al. 2011).
Eine Studie mit Daten aus dem US-amerikanischen »National Health and Nutrition Examination Survey« ergab, dass 26,4% der PatientInnen in der Stichprobe, die Antidepressiva einnahmen, nur leichte depressive Symptome hatten (Shim et al. 2006). Eine andere britische Studie zeigte, dass 58% der Menschen, die mehr als zwei Jahre lang Antidepressiva einnahmen, die Kriterien für eine psychiatrische Diagnose nicht erfüllten (Cruickshank et al. 2008).
Es gibt inzwischen evidenzbasierte Einwände gegen die Verschreibung von Antidepressiva für Menschen mit chronischen Schmerzen; deren Wirksamkeit sei sehr gering (Birkinshaw et al. 2023). Und es gibt Belege dafür, dass Frauen, ältere Menschen und Menschen, die in sozial schwachen Wohngegenden leben, unverhältnismäßig häufig Antidepressiva verschrieben werden.
Dies wirft die Frage auf, inwieweit wir die Folgen von Benachteiligung und Entbehrung zu Unrecht medizinalisieren und mit Psychopharmaka behandeln.
Neben den Folgekosten für die Menschen, die durch die unnötige Verschreibung von Antidepressiva verursacht werden, entstehen dem »NHS« in England jetzt auch erhebliche unnötige wirtschaftliche Kosten in Höhe von bis zu 58 Millionen Pfund pro Jahr (Davies et al. 2022) – Geld, das man besser für die Förderung nicht-pharmakologischer Maßnahmen ausgeben könnte. Dieses Problem anerkannte das NHS in seiner Erklärung National Medicines Optimisation Opportunities 2023-24 (NHS Business Services Authority 2023).
Wir sind der Meinung, dass eine Umkehr der Verschreibungsrate von Antidepressiva erreicht werden kann, wenn verschiedene Empfehlungen des öffentlichen Gesundheitswesens in Übereinstimmung mit den National Medicines Optimisation Opportunities 2023-24 des NHS befolgt werden.
Dazu gehören:
- das Ende der Verschreibung von Antidepressiva bei leichten Beschwerden für neue PatientInnen
- die Einhaltung der NICE-Leitlinien von 2022 zur sicheren Verschreibung und zum Absetzmanagement einschließlich einer sachgerechten informierten Zustimmung und einer regelmäßigen Überprüfung von Schäden und Nutzen
- die Finanzierung und Bereitstellung lokaler Entzugshilfen, die mit sozialer Verschreibung (2), Lebensstilmedizin (3) und psychosozialen Interventionen integriert sind
- die Berücksichtigung der verringerten Antidepressiva-Verschreibung als Indikator in den »NHS« Quality and Outcomes Framework sowie
- die Finanzierung und Bereitstellung einer nationalen 24-stündigen telefonischen Notrufstelle für den Entzug ärztlich verschriebener Psychopharmaka und einer entsprechenden Website.
Schließlich hoffen wir, dass andere Länder mit hohen Antidepressiva-Verschreibungsraten sich ebenfalls zu einer Umkehr verpflichten.
Anmerkungen und Quellen:
(1) Der Aufruf wurde unterzeichnet von:
James Davies, außerordentlicher Professor für medizinische Anthropologie und Psychologie
John Read, Vorsitzender des International Institute for Psychiatric Drug Withdrawal
Danny Kruger, Beyond Pills All Party Parliamentary Group, Houses of Parliament, London
Nigel Crisp, Ko-Vorsitzender der Beyond Pills All Party Parliamentary Group, Houses of Parliament, London
Norman Lamb, ehemaliges Mitglied des Parlaments und Minister für Pflege und Unterstützung
Michael Dixon, Vorsitzender des College of Medicine, London
Sam Everington, Allgemeinmediziner und Vizepräsident der British Medical Association und des College of Medicine, London
Sheila Hollins, emeritierte Professorin für Psychiatrie, unabhängige Gutachterin des House of Lords, London
Joanna Moncrieff, Professorin für kritische und soziale Psychiatrie
Bogdan Chiva Giurca, Gesamtverantwortliche und klinische Leitung der National Academy for Social Prescribing, London
Chris van Tulleken, außerordentlicher Professor am University College London
Guy Chouinard, Professor für klinische Pharmakologie
Michael Dooley, Schatzmeister des College of Medicine, London
Anne Guy, Mitglied, Sekretariat Beyond Pills All Party Parliamentary Group, Houses of Parliament, London
Mark Horowitz, Klinischer Forschungsstipendiat in der Psychiatrie
Peter Kinderman, Professor für klinische Psychologie
Lucy Johnstone, beratende klinische Psychologin
Luke Montagu, Gründungsmitglied des Council for Evidence Based Psychiatry, London
Antonio E. Nardi, Professor für Psychiatrie
Sarah Stacey, Gründungsmitglied des College of Medicine Beyond Pills Campaign, London
Martin Bell, Leiter der Abteilung Politik und öffentliche Angelegenheiten der British Association for Counselling and Psychotherapy
Andrew Tresidder, klinischer Leiter des Medicines Management NHS Somerset
Jo Watson, Psychotherapeutin
Stevie Lewis, Mitglied des Lived and Professional Experience Advisory Panel for Prescribed Drug Dependence
Marcantonio Spada, Professor für Suchtverhalten
Rupert Payne, Professor für Primärversorgung und klinische Pharmakologie
Naveed Akhtar, Co-Vorsitzender der Integrated Medicine Alliance und Ratsmitglied des College of Medicine, London
Christian Buckland, Vorsitzender des UK Council for Psychotherapy
Jon Levett, Vorstandsvorsitzender des UK Council for Psychotherapy
Sue Whitcombe, Vorsitzende der Division of Counselling Psychology der British Psychological Society
Laura Marshall-Andrews, Allgemeinärztin und Autorin.
(2) Soziale Verschreibung (Social Prescribing) ist eine nicht-medizinische Überweisungsoption für eine Reihe von Professionellen, darunter AllgemeinmedizinerInnen und medizinisches Personal sowie nicht-medizinische Professionelle, die im Bereich der Sozialfürsorge und in Wohlfahrtsverbänden arbeiten. Ärztlich Tätige können ihre PatientInnen an SpezialistInnen für soziale Verschreibung oder KoordinatorInnen verweisen, die ihnen Selbsthilfegruppen vorschlagen, denen sie sich anschließen können, um ihre Gesundheit und ihr Wohlbefinden zu verbessern (P.L.).
(3) Die Lebensstilmedizin befasst sich mit Gesundheitsvorsorge und Selbstfürsorge, insbesondere mit der Vorbeugung, Erforschung, Aufklärung und Behandlung von Störungen, die ihre Ursache in einer ungesunden Lebensweise mit möglicherweise tödlichem Ausgang haben wie beispielsweise ungesunde Ernährung, Bewegungsmangel, chronischer Stress, Rauchen oder Missbrauch von Drogen und Alkohol (P.L.).
Quellen:
Fussnoten:
Birkinshaw H, Friedrich CM, Cole P, et al. Antidepressants for pain management in adults with chronic pain: a network meta-analysis. Cochrane Database Syst Rev 2023;5:CD014682.pmid:37160297. PubMedGoogle Scholar
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Übersetzung: Peter Lehmann, Berlin – www.peter-lehmann.de