Die Wissenschaftlerin und Autorin Dr. Kristin Neff hat sich in ihrem Buch »Selbstmitgefühl – Schritt für Schritt« mit der Problematik des Selbstwertgefühls auseinandergesetzt.
Dieses Thema ist mir sehr wichtig, weil es für viele Probleme in einer modernen westlichen Gesellschaft verantwortlich ist, daher habe ich den Text vollständig übernommen. Dazu empfehle ich auch den Beitrag des Autoren und Psychologen Russ Harris aus seinem Buch »Wer dem Glück hinterherrent, läuft daran vorbei – ein Umdenkbuch« Zum Beitrag
Inhaltsübersicht:
» Die Vorstellung, dass ein hohes Selbstwertgefühl von psychischer Gesundheit zeugt, ist in der westlichen Kultur so weit verbreitet, dass die Leute entsetzt davor zurückschrecken, irgendetwas zu tun, was dieses Selbstwertgefühl gefährden könnte. Wir haben gelernt, dass wir um jeden Preis ein positives Selbstbild wahren müssen. «Kristin Neff
Selbstwert ist nicht das, wofür wir es halten
Als ich meine Doktorarbeit an der Universität von Berkeley beendet hatte, bekam ich eine Postdoktorandenstelle bei Susan Harter, einer der bekanntesten Forscherinnen auf dem Gebiet des Selbstwertgefühls. Zu dieser Zeit interessierte ich mich für den Buddhismus und für Selbstkonzepte. Ich wollte verstehen, wie sich unsere Selbstkonzepte im Verlauf der Zeit verändern. Als ich mich in die Fachliteratur zu diesem Thema vertiefte, erkannte ich, dass Selbstwert nicht das war, wofür es oft gehalten wird.
Es gibt Tausende von Büchern über Selbstwert und seine Bedeutung und warum uns ein starkes Selbstwertgefühl glücklich macht. Es gibt große Bewegungen, die sich für die Steigerung des Selbstwertgefühls einsetzen. Es wird allgemein angenommen, dass Kinder, deren Selbstwertgefühl verstärkt wird, zu glücklichen und produktiven Erwachsenen werden. Der Grund für den Optimismus in Bezug auf das Selbstwertgefühl als das große Wundermittel für psychische Gesundheit liegt darin, dass Menschen mit einem hohen Selbstwertgefühl oft glücklicher sind. Diese Menschen leiden weniger unter Depression oder Angst. Menschen mit einem niedrigeren Selbstwertgefühl, die sich selbst nicht mögen oder sich als wertlos empfinden, erleben negative Wirkungen auf ihre Gesundheit. Im Extremfall kann diese Empfindung zum Selbstmord führen, diese Menschen glauben dann, dass sie nicht genügend Wert haben, um weiterzuleben.
Es ist also wichtig, dass wir gegenüber uns selbst positive Gefühle pflegen. Aber das Entscheidende ist nicht, ob wir positive oder negative Gefühle für uns selbst empfinden. Wichtig ist, was die Quelle unserer positiven und negativen Gefühle ist. Wie erreichen wir ein hohes Selbstwertgefühl? Das ist die entscheidende Frage.
Was ist Selbstwertgefühl?
Was meine ich mit Selbstwertgefühl? Beginnen wir mit dem Wort »Wert«, das sich darauf bezieht, etwas einzuschätzen und zu beurteilen. Danach ist der Selbstwert eine umfassende Einschätzung des eigenen Wertes. Das bezieht sich auf unsere Verhaltensweisen und Fähigkeiten, z. B. die Dinge, die wir gut oder nicht so gut können. Es ist eine allgemeine Bewertung: Wie gut bin ich? Wie wertvoll bin ich? Wo würde ich mich auf einer Skala von 1 bis 10 einordnen? Muss ich mich selbst in eine Schachtel mit der Aufschrift »schlecht« oder in eine mit der Aufschrift »gut« stecken?
Darum geht es im Grunde beim Selbstwertgefühl: Es ist eine allgemeine Einschätzung des eigenen Wertes.
Das Selbstmitgefühl ist keine Einschätzung des eigenen Wertes. Beim Selbstmitgefühl fragen wir nicht, ob wir gut oder schlecht sind. Selbstmitgefühl bezieht sich nicht auf das allgemeine Selbst. Es ist vielmehr eine Form der Beziehung mit der gegenwärtigen Erfahrung, mit der sich ständig verändernden Erfahrung im gegenwärtigen Moment mit Güte, Fürsorge und Verständnis.
Selbstmitgefühl beinhaltet keine Selbsteinschätzung, es ist vielmehr die Bereitschaft, das eigene Herz für die Zerbrechlichkeit und Unvollkommenheit unseres Menschseins zu öffnen.
Selbstwert durch Beurteilung
In unserer westlichen Kultur ist es für ein hohes Selbstwertgefühl notwendig, dass wir uns als etwas Besonderes und über dem Durchschnitt erleben. Nehmen wir einmal an, ich bewerte Ihre Arbeitsleistung und sage Ihnen, dass sie durchschnittlich gut ist. Das würde Sie wahrscheinlich am Boden zerstören, Sie wären verzweifelt. Denn wenn man in unserer Kultur zum Durchschnitt gezählt wird, erleben wir das als eine Beleidigung. Es ist nicht genug, nur Durchschnitt zu sein, wir müssen etwas Besonderes sein und über dem Durchschnitt liegen. Das ist die Voraussetzung, dass wir uns einigermaßen gut fühlen.
Mit dieser Notwendigkeit aber, über dem Durchschnitt sein zu müssen, gibt es ein Problem: Es ist logisch unmöglich, dass jeder gleichzeitig über dem Durchschnitt ist. Die Definition von Durchschnitt bedeutet, dass man so ist, wie die meisten Menschen. Per Definition sind also die meisten von uns der Durchschnitt. Aber wenn es nicht in Ordnung ist, der Durchschnitt zu sein, und wenn man sich besser fühlen muss als andere, um sich gut genug zu fühlen, dann werden einige unschöne und letztlich isolierende psychische Dynamiken in Gang gesetzt. Diese Dynamiken führen oft zu Leiden, statt uns zu helfen.
Aus Wissenschaft und Forschung
In der Erforschung des Selbstwertgefühls gibt es einige stark begründete Erkenntnisse, die sich auf dieses Bedürfnis beziehen, besser als der Durchschnitt zu sein. Eines dieser Forschungsergebnisse wird als der »Lake-Wobegon-Effekt« oder auch als »Selbstverbesserungsneigung« (»self en-hancement bias«) bezeichnet. Der Name Lake Wobegon bezieht sich auf eine gleichnamige Radiosendung von Garrison Keeler. Am Lake Wobegon sehen alle Männer gut aus, alle Frauen sind stark und alle Kinder sind besser als der Durchschnitt.
Psychologen haben die amerikanische Bevölkerung untersucht und die Menschen gebeten, sich auf einer langen Liste der kulturell wertgeschätzten Eigenschaften zu bewerten. Die Fragen richteten sich z. B. darauf, ob die Testperson klug, hübsch, humorvoll oder vertrauenswürdig ist. Fast bei jeder kulturell wertgeschätzten Eigenschaft, die man den Teilnehmern vorlegte, äußerten sie, dass sie über dem Durchschnitt liegen würden.
Eine Studie fand heraus, dass 98 Prozent der Autofahrer denken, dass sie überdurchschnittlich gute Autofahrer sind. Selbst die Mehrzahl der Menschen, die vor Kurzem einen Autounfall verursacht haben, sind davon überzeugt, dass sie überdurchschnittlich gute Autofahrer sind. Wir haben diesen Impuls, uns selbst im Vergleich mit anderen als besser zu sehen. Und erst, wenn wir »wissen«, dass wir besser als der Durchschnitt sind, fühlen wir uns gut genug. Diese Haltung findet sich in allen Kulturen. In Japan hat z. B. Demut einen hohen Wert. Und ob Sie es glauben oder nicht, die meisten Menschen dort denken, dass sie überdurchschnittlich demütig sind.
Wenn wir uns besser als andere sehen müssen, um uns gut genug zu fühlen, dann finden wir Wege, um die Realität unseres eigenen Wesens auszublenden. Und wir finden Wege, um andere herablassend zu behandeln. Wir sehen sie dann nicht in solch einem guten Licht, wie wir es sonst tun würden. Denn es hilft uns dabei, uns im Vergleich mit ihnen gut genug zu fühlen.
Warum ein hohes Selbstwertgefühl auch schlecht sein kann?
Manchmal gibt es Extremformen dieser Haltung, und die Betonung eines hohen Selbstwertgefühls hat bei der Erziehung unserer Kinder einige schwerwiegende Folgen gehabt. Die amerikanische Kultur z. B. ist zurzeit durch eine Epidemie des Narzissmus gekennzeichnet. Seit 25 Jahren wird der Narzissmus von Studenten gemessen, und heute werden erschreckende Werte festgestellt: die höchsten, die bisher gefunden wurden. Und diese Kurve geht weiter nach oben. Forscher, die dieses Phänomen untersuchen, bezeichnen diese Generation junger Menschen als »Generation Ich«: Bei all den guten Absichten, die hinter solch einer Erziehung stehen, gehen die Forscher davon aus, dass den Jugendlichen ständig gesagt wurde, dass sie etwas Besonderes und die Besten seien. Deshalb hat sich ihr Selbstwertgefühl damit verbunden, etwas Besonderes und die Besten zu sein. Die jungen Menschen verinnerlichten diese Haltung und denken nicht nur, dass sie etwas Besonderes, sondern auch besser als alle anderen sind. Wenn Sie schon einmal einem Narzissten begegnet sind, dann brauche ich Ihnen nicht zu sagen, zu welchen Problemen diese Haltung in unserer Gesellschaft führt.
» Ein hohes Selbstwertgefühl bedeutet nicht, dass man ein besserer Mensch ist, sondern nur, dass man sich für einen besseren Menschen hält «Kristin Neff
Selbst wenn es nicht die Ebene des Narzissmus erreicht, dieses Bedürfnis, uns selbst als besser zu sehen, um uns gut genug zu fühlen, führt zu einem hohen Maß sozialer Vergleiche. Wie gut bin ich im Vergleich zu ihr? Bin ich so schön wie er? Bin ich so klug wie sie? Dabei findet ständig ein mentaler Kampf um die besten Positionen statt. Um es einmal ganz offen zu sagen:
Dies kann zu einer Kultur der Gemeinheit führen.
Haben Sie den Film “Girls Club – Vorsicht bissig!” gesehen? Das ist ein wunderbarer Film, der auf einer soziologischen Studie mit dem Titel »Queen Bees« und Wannabes (dt. etwa: »Bienenköniginnen und Möchtegerns«) beruht, die von Rosalind Wiseman gemacht wurde. Wiseman ging in eine Highschool in den USA und wollte herausfinden, warum die beliebten Mädchen bei allen so beliebt sind. Ein Grund für ihre Beliebtheit ist sicher, dass sie oft schon mit 16 wie Supermodels aussehen. Aber darüber hinaus stellte sie fest, dass die beliebten Mädchen an der Schule oft andere Mädchen herablassend behandelten. Im Film »Girls Club« hatten die Mädchen ein Buch, in das sie bösartige Kommentare über andere Schülerinnen schrieben. Heute wird dazu Facebook genutzt.
Dieses Bedürfnis, besser als andere zu sein, führt dazu, dass Mitschüler herablassend behandelt und abgewertet werden, so dass sie schwächer und nicht so gut erscheinen wie man selbst. Denn dadurch kann man sich im Vergleich besser und überlegen fühlen. Dies kann im Extremfall bis zum Mobbing führen. Entgegen der landläufigen Meinung haben Forschungen gezeigt, dass Jugendliche, die andere tyrannisieren, ein hohes Selbstwertgefühl haben. Aber der Grund für ihr starkes Selbstwertgefühl liegt wiederum darin, dass sie andere, die nicht so stark sind wie sie, schikanieren und herablassend behandeln. Dadurch fühlen sie sich gut. Leider erhalten sie so auch stärkere Zustimmung von ihren Mitschülern. Andere Schüler schauen zu den Tyrannen auf, weil sie stark sind. Diese Gewalt unter Schülern ist ein großes Problem in unserer Gesellschaft geworden.
In diesem Zusammenhang spielen auch Vorurteile eine große Rolle. Was bedeutet es, Vorurteile zu haben? Es heißt, dass meine Gruppe besser ist als die anderen Gruppen. Meine Rasse, meine Religion, meine Partei ist besser als alle anderen. Es ist die Tendenz, sich abzugrenzen von anderen Individuen oder anderen Gruppen. Auch dies kommt aus dem Bedürfnis, uns selbst im Vergleich zu anderen als besser und höher stehend zu bewerten.
Psychologen waren überrascht, als sie herausfanden, dass Menschen, die sehr ausgeprägte Schutzmechanismen für ihr Ego entwickelt haben und auf andere oft verärgert reagieren, ein starkes Selbstwertgefühl zeigen. Durch die Verteidigung ihres eigenen Egos und die Wut auf andere halten sie dieses starke Selbstwertgefühl aufrecht. Solche Menschen erkennen eigene Fehler nicht an, sondern schieben die Schuld auf andere. Wenn wir natürlich ständig die Schuld auf andere schieben, können wir uns selbst auch aufwerten und die Blase unseres starken Selbstwertgefühls vergrößern und schützen.
Denken Sie an eine Situation, in der Sie sich mit einem Menschen, der Ihnen wichtig ist, gestritten haben. Wahrscheinlich ging es dabei um irgendein Ego-Problem. Vielleicht hat der andere etwas über Sie gesagt, das Sie nicht akzeptieren wollten. Sie waren aber der Ansicht, dass der andere die Verantwortung für die Situation trägt. Das ist eine natürliche soziale Dynamik, aber es ist wichtig, dass wir uns dessen bewusst werden. Wenn wir unser eigenes Ego und unser Selbstwertgefühl schützen müssen, dann können leicht unnötige zwischenmenschliche Konflikte entstehen.
Die bedingte und instabile Natur des Selbstwertgefühls
Eine weitere negative Folge des Bedürfnisses nach einem hohen Selbstwertgefühl besteht darin, dass wir aus diesem Bedürfnis heraus auch ständig danach suchen, weil unser Selbstwertgefühl abhängig von Bedingungen ist. Wie wir schon gesehen haben, gehört zu diesen Bedingungen, dass wir uns selbst besser fühlen als andere. Eine weitere Bedingung ist unser Erfolg. Wenn ein Musiker, für den es sehr wichtig ist, dass er gut spielt, ein schlechtes Konzert gibt, dann wird es sich negativ auf sein Selbstwertgefühl auswirken.
Wenn wir unser Selbstgefühl davon abhängig machen, dass wir in einem Bereich unseres Lebens gute Leistungen vollbringen, wird bei einem Fehlschlag unser Selbstwertgefühl abstürzen. Aber da wir Menschen sind, werden wir Fehler machen.
Oftmals leben wir getreu des Hollywoodspruches: »Du bist nur so gut wie dein letzter Erfolg.« Wenn die Dinge gut laufen, dann fühlen wir uns wohl und sind glücklich. Aber sobald ein Problem auftaucht und wir uns mit der Realität des Lebens auseinandersetzen müssen – wozu auch gehört, dass wir Fehler machen werden – , dann fühlen wir uns niedergeschlagen, wertlos und nicht liebenswert. Unser Selbstwertgefühl, unsere Selbstwahrnehmung und unser Empfinden für unseren eigenen Wert können sehr instabil sein. Es kann ständig von oben nach unten schwanken, fast wie ein Jo-Jo, immer abhängig von unserem letzten Erfolg oder Misserfolg. Einige Psychologen sind der Ansicht, dass diese Instabilität des Selbstwertes – wenn wir nicht genau wissen, ob wir gut oder doch nicht so gut sind – an sich schon psychisch destabilisierend ist. Deshalb sei es vielleicht sogar besser, sich nicht zu mögen und ein geringes Selbstwertgefühl zu haben, weil uns das zumindest etwas Stabilität gibt. Ich bin mir nicht sicher, ob ich mit diesem Vorschlag übereinstimme, aber es ist ein interessanter Gedanke.
Wir verbringen so viel Zeit damit, um in Beziehung zu anderen Menschen unser Selbstwertgefühl möglichst hoch zu halten. Selbst wenn es uns gelingt, uns selbst davon zu überzeugen, dass wir bei einer bestimmten Eigenschaft besser sind als der Durchschnitt, wird es leider immer jemanden geben, der noch besser ist. Wir können immer jemanden finden, der noch besser ist – noch klüger, noch reicher, noch attraktiver oder ein besserer Autofahrer oder ein talentierterer Musiker. Solange unser Selbstwertgefühl aus diesen Vergleichen kommt, wird es immer wieder dazu führen, dass wir uns schlecht fühlen und uns nicht mögen.
Wenn wir uns fragen, warum wir uns so getrennt von anderen empfinden, dann liegt einer der Hauptgründe darin, dass uns die Gesellschaft ständig sagt, wir müssten mit anderen Menschen konkurrieren. Unsere ganze Wirtschaft basiert auf dem Versprechen, dass wir durch das Kaufen bestimmter Produkte besser sein werden als andere und deshalb ein höheres Selbstwertgefühl empfinden werden.
Ich denke, es ist wichtig, dass wir diesen Prozess genau beobachten. Wir müssen uns nicht dafür verurteilen, es ist natürlich und wir alle tun es: Ich denke, ich bin besser als der Durchschnitt, Sie denken, Sie sind besser als der Durchschnitt … So ist unser Geist einfach geprägt.
Aber es ist wichtig, dass wir das Leiden erkennen, das aus diesem Bedürfnis entsteht, sich besser als der Durchschnitt zu fühlen.
Selbstwert durch Selbstmitgefühl
Als ich bei der Arbeit im Rahmen meiner Postdoktorandenstelle sehr viel über Selbstwertgefühl lernte und privat im Rahmen meiner spirituellen Praxis Selbstmitgefühl übte, erkannte ich, dass Selbstmitgefühl eine wunderbare Alternative zum Selbstwertgefühl ist. Es ist eine gesündere Weise, uns mit uns selbst gut zu fühlen – aber nicht deshalb, weil wir uns selbst positiv bewerten. Es geht nicht darum, festzustellen, ob wir gut oder schlecht, besser oder schlechter als jemand anderes sind. Stattdessen fühlen wir uns gut, wir selbst zu sein, einfach weil wir Menschen sind. Wir sind unvollkommen wie alle Menschen, aber wir sind wertvoll und verdienen Fürsorge.
Selbstwert entsteht aus Urteilen, also daraus, dass wir uns selbst positiv beurteilen. Selbstmitgefühl entsteht aus der Liebe, in der ich mit mir selbst fürsorglich umgehe, egal, ob ich erfolgreich bin oder scheitere. In der Tat ist das Wunderbare am Selbstmitgefühl, dass es genau zu dem Zeitpunkt aktiv wird, wenn uns das Selbstwertgefühl verlässt: In den Momenten des Scheiterns, wenn wir uns selbst nicht mögen oder wenn andere besser sind als wir selbst. Das Selbstmitgefühl gibt uns diese tiefe Stabilität, diese gefestigte, friedvolle Beziehung mit uns selbst, in der wir uns mit anderen Menschen verbunden fühlen können und uns nicht in Konkurrenz mit ihnen befinden.
Wir haben einige Forschungen zu diesem Thema durchgeführt, es ist eine meiner großen Leidenschaften. Dabei haben wir viele Informationen gesammelt, die vor allem eines zeigen: Wie freundlich wir mit uns selbst umgehen, hängt direkt damit zusammen, dass wir uns nicht so oft mit anderen vergleichen, dass wir seltener wütend sind und unser Ego nicht so stark verteidigen müssen.
Das Gefühl des Selbstwertes, das mit Selbstmitgefühl einhergeht, ist weitaus stabiler als ein Selbstwertgefühl, das mit der Beurteilung des eigenen Wertes zusammenhängt.
Der Selbstwert, der aus Selbstmitgefühl entsteht, ist nicht so instabil, weil er nicht davon abhängt, ob wir erfolgreich sind oder scheitern. Zudem führt dieser Selbstwert nicht zum Narzissmus. Die Voraussetzung für Selbstmitgefühl ist nicht, dass man sich besser fühlt als andere, sondern dass man sich mit anderen verbunden fühlt.
Das Wunderbare daran ist also, dass wir in einer Haltung des Selbstmitgefühls nicht immer die Besten sein müssen. Stattdessen können wir uns dem ganzen Spektrum des Lebens öffnen, für unsere Schwächen und Stärken, für unsere hellen und dunklen Seiten. Wir können alles akzeptieren und uns mit allen anderen verbunden fühlen, weil wir das ganze Spektrum der menschlichen Unvollkommenheiten akzeptieren.
Uns selbst so sehen, wie wir sind
Ich möchte jetzt eine kurze Übung anleiten mit dem Titel: »Uns selbst so sehen, wie wir sind.« Diese Übung soll uns helfen, uns selbst klarer zu sehen. Jeder Mensch hat Eigenschaften, die in der Tat überdurchschnittlich gut sind. Wir haben alle auch durchschnittliche Eigenschaften, und ob wir es wollen oder nicht – auch solche, die unter dem Durchschnitt liegen. Diese Übung möchte ich anleiten, um herauszufinden, ob wir uns dieser Wirklichkeit mit Güte und Gelassenheit öffnen können. So können wir uns erlauben, uns in diesem gemeinsamen Merkmal des Menschseins verbunden zu fühlen, statt uns von anderen zu isolieren.
Geführte Übung: Uns selbst so sehen, wie wir sind
Wenn Sie gern schreiben, dann können Sie sich für diese Übung ein Blatt Papier und einen Stift zurechtlegen. Ansonsten können Sie diese Übung einfach innerlich praktizieren.
Wählen Sie drei kulturell wertgeschätzte Eigenschaften aus, bei denen Sie aufrichtig denken, dass Sie darin wahrscheinlich besser als der Durchschnitt sind. Dies sind Ihre Stärken, die bei Ihnen besser ausgeprägt sind als bei anderen. Wir können es hier einfach so als Tatsache hinstellen: Bei welchen drei Eigenschaften sind Sie besser als der Durchschnitt?
Sie müssen nicht bei den drei Eigenschaften aufhören, aber ich schlage vor, dass wir es in dieser Übung auf drei beschränken.
Nun bitte ich Sie, an drei kulturell wertgeschätzte Eigenschaften zu denken, bei denen Sie wahrscheinlich durchschnittlich gut sind. In Bezug auf diese Eigenschaften sind Sie einfach nicht besser als andere.
Denken Sie jetzt an drei kulturell wertgeschätzte Eigenschaften, bei denen Sie ehrlich gesagt schlechter sind als der Durchschnitt. Dies sind unsere Schwächen, Eigenschaften, bei denen wir nicht so gut sind wie die meisten anderen. Dabei lassen wir Selbstkritik oder Selbstverurteilungen beiseite. Wir akzeptieren einfach, dass alle Menschen Stärken und Schwächen haben. Welche Schwächen haben Sie?
Denken Sie nun an das ganze Spektrum von Eigenschaften, die Sie gerade bei sich selbst festgestellt haben – die Aspekte, bei denen Sie besser als der Durchschnitt, durchschnittlich oder schlechter als der Durchschnitt sind. Wenn Sie diese Eigenschaften noch nicht aufgeschrieben haben, dann nehmen Sie sich später einen Moment Zeit, um sie zu notieren. Betrachten Sie diese Aspekte und Facetten Ihres Selbst. Können Sie dabei versuchen, die Tatsache, dass Sie in manchen Bereichen durchschnittlich sind, nicht nur zu akzeptieren, sondern sogar zu genießen? Und dann gibt es Aspekte, bei denen Sie unter dem Durchschnitt liegen und solche, bei denen Sie über dem Durchschnitt liegen, und all dies ist völlig in Ordnung. Können Sie dieses ganze Spektrum der menschlichen Erfahrung in all seiner Komplexität akzeptieren?
Ein Mensch zu sein bedeutet, in vielerlei Hinsicht durchschnittlich zu sein. Können wir die Erfahrung des Menschseins auf diesem Planeten in all der Komplexität und all dem Zauber akzeptieren und sogar genießen? Denn wenn wir etwas genauer darüber nachdenken, können wir sehen, dass Vollkommenheit ziemlich langweilig wäre. Können Sie sich vorstellen, dass Ihre Eigenschaften und meine Eigenschaften alle vollkommen perfekt, besser und überdurchschnittlich gut wären? Und die aller anderen auch? (Wir fantasieren nur, denn logisch ist das ja unmöglich.) Dann wären wir ein Land, das von Barbie- und Kenpuppen bewohnt würde. Wäre das nicht ziemlich uninteressant und langweilig?
Unsere Unvollkommenheiten, unsere Schwächen, unsere Schwierigkeiten machen das Leben lebenswert. Sie machen aus dem Leben ein Wunder. Was wäre, wenn wir der perfekte Mensch wären, der wir sein wollen, und alle anderen die perfekten Menschen wären, die sie sein wollen? Wir würden vor Langeweile sterben. Können wir uns dem Hellen und dem Dunklen, den Stärken und den Schwächen öffnen und sie akzeptieren? Können wir für all dies unser Herz öffnen?
Hier wird das Selbstmitgefühl wichtig, denn es kann uns mit dieser Qualität der Akzeptanz und mit dem Zauber des Menschseins, den wir alle miteinander teilen, erfüllen.
Links:
https://www.self-compassion.org/
https://www.centerformsc.org/
Literatur:
Selbstmitgefühl Schritt für Schritt – Kristin Neff (Buch und 4 CDs mit geführten Übungen und Meditationen)
Selbstmitgefühl: Wie wir uns mit unseren Schwächen versöhnen und uns selbst der beste Freund werden
Aloha
Quelle:»Selbstmitgefühl Schritt für Schritt« von Kristin Neff, Seite 85-103
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