Die Sache mit dem Selbstwertgefühl

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Die Sache mit dem Selbstwertgefühl

Ein hohes Selbstwertgefühl bedeutet nicht, dass man ein besserer Mensch ist, sondern nur, dass man sich für einen besseren Menschen hältKristin Neff

21. März 2012
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Im Gespräch mit meiner früheren Psychiaterin erzählte ich ihr, was mir widerfahren war und welche Konsequenzen das nach sich zog. Ich war mehrere Jahre bei ihr in Behandlung gewesen und hatte sie stets als ruhige und sanfte Person mit viel Empathie kennengelernt. Nie hatte ich ein böses Wort von ihr gehört, aber schon während des Erzählens fiel mir auf, dass ihr sonst so entspannter Gesichtsausdruck steinern geworden war. Sie antwortete:

»Das darf nicht wahr sein, es tut mir leid Herr Hüfner, dass Sie das erleben mussten! Leider sind Sie nicht der Erste! Jedes Mal muss ich das wieder gerade biegen, was die dort verpfuscht haben! Diese furchtbare Person (die Chefärztin der Psychiatrie, in der ich den traumatischen Entzug erlebt hatte) hält sich für etwas ganz Besonderes. Ihr Prestige, ihre Anerkennung sind ihr wichtiger als alles andere. Sie denkt, sie sollte längst eine renommierte Universitätsklinik leiten, stattdessen hängt sie in dieser in ihren Augen »Provinzpsychiatrie« fest und macht vor lauter Frust allen das Leben schwer, ihre Mitarbeiter eingeschlossen!«

Ich war unglaublich erleichtert! Ich dachte bis dahin, ich wäre der Einzige gewesen und es wäre meine Schuld gewesen, dass ich so respektlos und ohne jedes Verständnis und Mitgefühl für meine Notsituation behandelt wurde. Ich fühlte mich in meiner Meinung über die Chefärztin bestätigt und dachte, dass eine Person mit offensichtlich »narzisstischen Verhaltensweisen« niemals eine Psychiatrie leiten dürfe! Das warf ein ganz anderes Licht auf die Einzel-Visite mit der Chefärztin in der Tagesklinik, die der Auslöser für den Rückfall war. Ich hatte durch meine (sachliche) Kritik an ihren Behandlungsmethoden und ihrem respektlosen Verhalten mir gegenüber, offenbar ihr hohes Selbstwertgefühl (siehe Selbstwertproblematik) angekratzt und ihr blieb nichts anderes übrig, als mich zu provozieren, um zu zeigen, wer hier das Sagen hat. Das diente einzig und allein dafür, ihr hohes Selbstwertgefühl wiederherzustellen.

Es ist logisch unmöglich, dass jeder gleichzeitig über dem Durchschnitt ist. Die Definition von Durchschnitt bedeutet, dass man so ist, wie die meisten Menschen

Ein wichtiges Thema, das mich schon länger beschäftigt ist das der »Selbstwertproblematik«. Meiner Ansicht nach eines der größten sozialen Probleme unserer modernen Gesellschaft. Die Wissenschaftlerin und Psychologin Kristin Neff schreibt in Ihrem Buch »»Selbstmitgefühl Schritt für Schritt«« dazu:

Die Vorstellung, dass ein hohes Selbstwertgefühl von psychischer Gesundheit zeugt, ist in der westlichen Kultur so weit verbreitet, dass die Leute entsetzt davor zurückschrecken, irgendetwas zu tun, was dieses Selbstwertgefühl gefährden könnte. Wir haben gelernt, dass wir um jeden Preis ein positives Selbstbild wahren müssen.

Wenn man sich unsere Gesellschaft aus sozialpsychologischer Sicht ansieht, dann erkennt man dies. Unser ganzes Wirtschaftssystem ist darauf aufgebaut, uns mit Idealbildern aus Medien und Arbeitswelt zu vergleichen. Wir werden dazu aufgefordert Dinge haben zu müssen, die Andere auch haben, um »cool« zu sein, um »hipp« zu sein, um Anerkennung zu bekommen, um »dazuzugehören«. Ratgeber, Apps und Werbung suggerieren uns:

»Du bist nicht gut genug, so wie Du bist, aber Du kannst das ändern!«
»Du kannst so sein, so aussehen, wie diese Personen in der Werbung,«
»Du kannst so erfolgreich sein und berufliche Karriere machen,«
»Du kannst reich UND glücklich werden.«

Sie treiben uns an zur Selbstoptimierung: für mehr Leistung im Beruf, für mehr Erfolg, für ein besseres Aussehen, Fitness und ein hohes Selbstwertgefühl. Und vor lauter Selbstoptimierung verlieren wir uns und das, was uns wirklich wichtig ist aus den Augen. Wir jagen einem Ziel nach dem anderen hinterher und werden zunehmend frustrierter, unzufriedener, ja sogar depressiv und krank.

Denn Tatsache ist: Es ist logisch unmöglich, dass jeder gleichzeitig über dem Durchschnitt ist. Die Definition von Durchschnitt bedeutet, dass man so ist, wie die meisten Menschen.1 Jeder Mensch hat Stärken und Schwächen, in manchen Dingen bin ich gut, in anderen schlecht und in den meisten durchschnittlich. Kristin Neff schreibt:

Wenn wir uns besser als andere sehen müssen, um uns gut genug zu fühlen, dann finden wir Wege, um die Realität unseres eigenen Wesens auszublenden. Und wir finden Wege, um andere herablassend zu behandeln. Wir sehen sie dann nicht in solch einem guten Licht, wie wir es sonst tun würden. Denn es hilft uns dabei, uns im Vergleich mit ihnen gut genug zu fühlen.

Tatsächlich führt das propagierte »hohe Selbstwertgefühl« leicht zu Arroganz, Selbstgerechtigkeit, Selbstsucht, Egoismus oder einem trügerischen Gefühl der Überlegenheit (was dann leicht Diskriminierung und Vorurteile hervorrufen kann).2 Dies kann in extremen Formen bis zum »Narzissmus« führen und tatsächlich wurde ein starker Anstieg narzisstischer Verhaltensweisen in unserer westlichen Gesellschaft in mehreren wissenschaftlichen Studien nachgewiesen. Neff spricht sogar von einer »Narzissmus-Epidemie« in den USA.

Der Weg unseren Selbstwert davon abhängig zu machen, wie wir uns selbst beurteilen bzw. wie uns die Gesellschaft beurteilt, ist ebenso ein Irrweg, wie unser Selbstbild davon abhängig zu machen, wie wir glauben, von der Gesellschaft wahrgenommen zu werden oder wahrgenommen werden wollen. Die Betonung liegt dabei auf glauben.

Den wissenschaftlichen Forschungen und Publikationen von Kristin Neff ist es zu verdanken, dass immer mehr Psychologen und Wissenschaftler von dem Irrweg des »hohen Selbstwertgefühls« als Quelle für ein erfolgreiches und glückliches Leben abkommen.

In der westlichen Gesellschaft existiert eine weitestgehend falsche Vorstellung von Glück. Das beginnt schon damit, dass wir meist von »Glücklich sein« sprechen. Dieser Ausdruck impliziert, das Glück etwas ist, das man erreichen kann, also ein Ziel und wenn man dieses Ziel erreicht hat, bleibt der Zustand des »Glücklich seins« für den Rest unseres Lebens.

Neff zeigt einen anderen, einen heilsamen Weg: Freundschaft mit uns selbst schließen. Uns so annehmen zu können, wie wir sind, mit all unseren Stärken und Schwächen und dass wir kein »hohes Selbstwertgefühl« für ein zufriedenes und erfülltes Leben brauchen. Dafür brauchen wir »Selbstmitgefühl«.

Wenn man sich das klar macht, dann erklärt sich die Verhaltensweise der Chefärztin mir und allen Menschen gegenüber, die sie kritisieren, denn das typische Verhalten eines Narzissten auf Kritik an seiner Person ist Wut, Ärger und Verachtung. Wenn Sie es mal mit einem Narzissten zu tun hatten, wissen Sie, wie destruktiv und verletzend das sein kann. Diese Wut hat für den Narzissten, der ja nur sich selbst liebt, eine wichtige Funktion: Die Verantwortung für das eigene Fehlverhalten wird so der anderen Person in die Schuhe geschoben, weil man sich selbst ja für »unfehlbar« hält. Es ist praktisch unmöglich einen Narzissten zu Einsicht und Selbsterkenntnis zu bringen, versuchen Sie es erst gar nicht! Solchen Menschen geht man am besten aus dem Weg, wenn das möglich ist.

Ich habe auf meinem Blog vf989lz1b47.c.updraftclone.com zwei Beiträge zu diesem Thema publiziert.

Meine Psychiaterin empfahl mir dann eine schrittweise Umstellung von Tavor auf Diazepam (ein anderes Benzodiazepin), da Diazepam eine längere Halbwertszeit hat als Tavor und somit die Panikanfälle reduziert werden können, es kommt zu keinem starken Abfall der Wirkung, wie das bei Tavor der Fall ist.

Am Nachmittag hatte ich einen weiteren Termin bei meiner neuen Psychotherapeutin. Ich erzählte ihr, dass ich mit der Ausdehnung angefangen hatte, um die Dämonen, die ich mit aller Macht versuchte zu verdrängen, endlich an Deck zu lassen. Sie warnte mich davor, nicht zu viel auf einmal zu machen, nicht an zu vielen Baustellen gleichzeitig zu arbeiten. Sie riet mir mit kleinen Schritten anzufangen und wenn etwas nicht so funktioniert, wie ich mir das vorstellen würde, freundlich zu mir zu sein, geduldig zu sein. Vor allem aber sollte ich mir bewusst machen, dass die nächsten Wochen eine emotionale Achterbahnfahrt werden könnten.

Tagebuch:

Termin mit Frau Dr. W.: Umstellung von Tavor auf Diazepam. Gutes Gespräch, fühle mich verstanden. Termin bei Psychologin: Gut gelaufen, soll nicht zu viel gleichzeitig machen und mich in Geduld üben. Die nächsten Wochen könnten zu einer emotionalen Achterbahnfahrt werden!

Werte: Achtsamkeit, Beharrlichkeit, Selbstmitgefühl, Aufrichtigkeit.

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