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Die Chefarztvisite
13. Juli 2011
Es tat mir gut, mich zur Abwechslung mal nicht mit den Ängsten und der Zukunftsaussicht zu beschäftigen, sondern diese »Geschichte«, wann immer sie auftauchte zu entschärfen, in dem ich sie benannte und mir so klar machte, dass es nur Gedanken waren, die mein Verstand erzählte. Es war befreiend nicht mehr zwanghaft zu versuchen diese Gedanken durch andere positive Gedanken zu verdrängen oder auszublenden und sich nicht mit den Gedanken an sich auseinandersetzen zu müssen, was ohnehin nicht funktionierte und nur noch zu mehr Leid führte.
Irgendwie lief es fast schon wieder zu gut und ich wurde langsam misstrauisch. Zu oft hatte ich die Erfahrung gemacht, mich mühsam aus einem Loch heraus zu arbeiten und gerade als ich den Kopf rausstrecken konnte, wieder einen auf den Deckel zu bekommen und nach ganz unten zu stürzen. Vor allem dauerte das Rausarbeiten oft sehr lange, das Abstürzten dagegen ging sehr schnell.
Zum ersten Mal in zwei Jahren hatte ich das zweifelhafte und seltene Vergnügen die Visite bei der Chefärztin der Psychiatrie zu haben. Ich fragte mich, worin der Sinn darin bestand. Dachte mir aber nichts dabei, ob nun die Oberärztin oder die Chefärztin mit mir die Medikation oder Wochenziele besprach war nicht wichtig.
Ich wartete wie immer, bis ich reingeholt wurde. Etwas fiel mir gleich auf, als ich den Raum betrat, der Stuhl, auf dem die Chefärztin bereits saß war nach vorne gerückt und stand sehr nah meinem gegenüber. Meine Therapeutin, die Oberärztin und die Pflegerin, die das Protokoll führte saßen in respektablen Abstand hinter ihr an der Wand. Das war ungewöhnlich, bisher saßen alle nebeneinander oder in einem Halbkreis vor mir. Ich sagte Guten Tag und setzte mich mit einem mulmigen Gefühl. Sofort war ich eingeschüchtert und das sollte wohl auch der Zweck dieser Anordnung sein. Ich wollte gerade auch die Chefärztin begrüßen, als diese mir schon zu vor kam und äußerst provozierend die Frage stellte:
»Herr Hüfner, was wird sein, wenn Ihre Eltern tot sind?«
Bang! Das hatte gesessen! Damit hatte ich nicht gerechnet. Um Zeit zu gewinnen und zu zeigen, dass ich von dieser unnötigen Provokation nicht eingeschüchtert war, sagte ich: »Danke, ich wünsche Ihnen auch einen guten Tag.«
Das kam vermutlich gar nicht gut an, denn sie stellte die Frage mit Nachdruck erneut: »Ich habe Sie gefragt, was sein wird, wenn Ihre Eltern tot sind?«
Ich blickte an ihr vorbei in die Runde, suchte den Blickkontakt mit meiner Therapeutin, dann mit der Oberärztin und hoffte jemand würde mir zur Seite springen. Keiner machte Anstalten etwas zu sagen. Ich wollte ihr am liebsten sagen, dass ich mit meiner Therapeutin vereinbart hatte, dieses Problem jetzt nicht anzugehen und damit zu warten, bis ich in der Reha wäre. Sicherlich hätte ihr das meine Therapeutin vorher mitgeteilt. Da die Therapeutin aber nichts sagte und ich sie nicht in Verlegenheit bringen wollte, versuchte ich die Frage der Chefärztin zu beantworten. Ich sagte:
»Das weiß ich nicht, noch sind Sie nicht tot, ich kann nicht wissen, was dann sein wird und es macht auch keinen Sinn sich mit diesen Gedanken auseinander zu setzen. Das hilft mir nicht! Ich erntete ein abfälliges seufzen.
»Aber irgendwann werden Ihre Eltern sterben und Sie werden das akzeptieren müssen, ob Sie wollen oder nicht! Sie müssen sich damit auseinandersetzen.«
»Das habe ich bereits getan, auf der Station.«
»Aber Sie müssen sich auch hier und jetzt damit auseinandersetzen, dafür sind Sie hier.«
Wieder blickte ich zu meiner Therapeutin und hoffte sie würde etwas sagen. Mir wurde aber immer deutlicher bewusst, dass hier niemand sich trauen würde etwas zu sagen. Ich wurde zunehmend wütender. Die Chefärztin ließ nicht locker:
»Sie müssen sich Ihren Ängsten stellen und nicht ständig davor davon laufen.«
»Was glauben Sie eigentlich, was ich die letzten Male hier getan habe? Es ist kein bisschen hilfreich, dass Sie in meinen Wunden rumbohren und mir vorwerfen, ich wäre nicht bereit dazu, mich meinen Ängsten zu stellen. Sie kennen mich doch gar nicht. Sie können sich doch gar kein Urteil über mich erlauben. Meine Therapeutin kann das, die Oberärztin kann das, die kennen mich. Sie nicht!«
So langsam fragte ich mich, ob meine Therapeutin ihr nichts von unserer Vereinbarung gesagt hatte oder ob die Chefärztin diese einfach ignorierte und mich nur provozieren wollte.
»Sie haben ja schon einiges an Therapie gehabt, ohne große Fortschritte zu machen. Was glauben Sie woran das liegt?«
»Ich weiß es nicht, vielleicht, weil Sie hier immer das gleiche machen? Probieren Sie doch mal was anderes, das bisherige hat offensichtlich nicht funktioniert! Ich bin gerade auf der Suche nach einer ambulanten ACT-Therapie. Ich glaube, dass dieses Konzept mir wirklich helfen könnte anders mit meinen Problemen umzugehen, als ich das bisher gelernt habe.«
»Auch da müssen Sie sich mit den Gedanken über den Tod Ihrer Eltern und Ihrer Zukunft konfrontieren.«
»Das ist richtig, aber nicht so, wie bisher!«
Ich wollte ihr gerade erklären, dass es bei ACT nicht wichtig ist, ob ein Gedanke, eine »Geschichte« wahr ist oder nicht, sondern nur ob der Gedanke hilfreich ist ein zufriedenes und erfülltes Leben zu schaffen und wenn dieser Gedanke nicht hilfreich ist, kann man ihn durch verschiedene Techniken entschärfen und muss sich nicht mehr länger mit diesem Gedanken auseinandersetzen, als die nächste provozierende Frage folgte:
»Was versprechen Sie sich dann von der Reha? Auch da müssen Sie sich mit Ihren Gedanken auseinandersetzen.«
Sie ging überhaupt nicht auf das ein, was ich sagte. Ich schaute noch mal in Richtung meiner Therapeutin. Sie sah ziemlich besorgt und angespannt aus. So langsam begriff ich, dass es der Chefärztin auch gar nicht darum ging mir zu helfen. Alleine der Tonfall und die abfälligen Blicke machte sehr deutlich, dass sie sich gar nicht damit beschäftigen wollte, meinen Schmerz, mein Leid zu sehen und mir mit Verständnis zu begegnen, wirklich auf mich einzugehen. Es ging ihr nur darum, mich zu provozieren. Ich kratzte offenbar an ihrem hohen Selbstwertgefühl (siehe Selbstwertproblematik), weil ich es gewagt hatte ihr zu widersprechen und ihre Methoden anzuzweifeln. Ich antwortete:
»Ich möchte mich erholen.«
Sie verzog den Mundwinkel und sagte: »Das Ziel der Reha ist die Wiederherstellung Ihrer Arbeitsfähigkeit und nicht Erholung!«
Ich beschloss auf das Spiel einzusteigen, um herauszufinden, ob ich mit meiner Vermutung richtig lag. Wenn dem so wäre, dann würde sie von ihrem Standpunkt nicht abweichen: »Für mich ist das wichtigste Ziel Erholung, ich bin total erschöpft. Ich habe keine Kraft mehr.«
»Das ist keine Kur, das Ziel der Reha ist die Wiederherstellung Ihrer Arbeitsfähigkeit.«
»Ich möchte mich dort erholen.«
»Das Ziel der Reha ist die Wiederherstellung Ihrer Arbeitsfähigkeit.«
Spätestens jetzt erkannte ich, dass meine Vermutung richtig war und ich hätte dieses Spiel endlos weitertreiben können. Es wäre bestimmt interessant gewesen, zu erfahren, ob die Chefärztin irgendwann die Beherrschung verlieren würde. Ich hatte aber genug davon. Ich dachte, ich wäre in einem Kindergarten und sah ein, dass dieses Spiel so weitergehen würde, egal, was ich sagen würde.
So ruhig, wie möglich entgegnete ich ihr: »Soll dieses Spielchen so weiter gehen oder wollen Sie vielleicht mal auf das eingehen, was ich sage. Es ist respektlos meinen Wunsch, mich hier und jetzt nicht mit diesem Problem auseinandersetzen zu wollen, zu ignorieren. Ich habe dies mit meiner Therapeutin besprochen und sie hat mir zugestimmt, das es aus therapeutischer Sicht sinnvoll ist dieses Problem anzugehen, wenn ich aus meinem belastenden Umfeld zu Hause raus bin und der dafür notwendige Abstand gegeben ist. Als Psychiaterin sollten Sie das wissen und ich bin mir sicher, dass das meine Therapeutin Ihnen vorab mitgeteilt hat. Offenbar ist Ihnen das aber egal. Es ist überhaupt nicht hilfreich, mich zu provozieren und ständig in meinen Wunden rumzubohren, statt mir mit Verständnis und Mitgefühl zu begegnen. Das bringt mir rein gar nichts, ganz im Gegenteil, Sie schaden mir damit. Wenn Sie nicht auf mich eingehen wollen, wenn Sie meinen Wunsch nicht respektieren wollen und mich stattdessen weiter provozieren und mir schaden wollen, dann sagen Sie es, dann werde ich aufstehen und gehen!«
Darauf sagte sie nichts, sah aber sehr verdutzt aus, das hatte wohl noch keiner gewagt. Ich stand auf und schaute noch mal kurz zu meiner Therapeutin, sie sah besorgt und verärgert aus. Dann verließ ich den Raum.
Ich war stinksauer und stark erregt. Gerne hätte ich gewusst, was meine Therapeutin während dieser Machtdarstellung gedacht hatte. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie die Chefärztin nicht über unsere Vereinbarung informiert hatte. Es war also von Anfang an Absicht mich zu provozieren und ich war leider nicht der Einzige. Ich sprach danach mit einigen Mitpatienten und denen war es ähnlich ergangen, nur dass sie nicht widersprochen und den Raum verlassen hatten, weil sie sich das nicht getraut hatten. Wer würde das auch tun, welcher psychisch Kranke hätte das Selbstvertrauen, den Mut und die Kraft das zu tun? Außerdem waren wir alle auf die Behandlung angewiesen und die meisten befürchteten, das man die Behandlung abbrechen würde, wenn sie nicht das taten, was man ihnen sagte. Das war auch mir bewusst. In diesem Moment war es mir aber wichtig meine Selbstachtung zu bewahren, mich selbst ernst zu nehmen und meine Wünsche und Bedürfnisse zu äußern. Es ist schon eine Ironie, dass ich in dieser Klinik in mehreren sozialen Kompetenztrainings gelernt hatte, Kritik zu äußern und meine Wünsche und Bedürfnisse mitzuteilen und ausgerechnet die Chefärztin dieser Klinik mit Kritik gar nicht umgehen kann.
Mit einem Gespräch hatte es die Chefärztin geschafft, sämtliche Fortschritte der letzten zwei Wochen zunichte zu machen.
Am Abend war ich immer noch wütend und sehr erregt. Ich machte mir Sorgen, was jetzt wohl passieren würde? Ob ich wegen des Vorfalls entlassen würde? Bilder vom Tod meines Vaters und meines Suizides tauchten wieder auf, starke Suizidgedanken drängten sich mir auf, die ich nicht entschärfen konnte. Ich hatte schließlich eine ziemlich heftige und lange Panikattacke, die erste seit zwei Wochen.
Als sie vorbei war, fragte ich mich, was da heute passiert war und warum? Ich konnte es nicht verstehen! Mit einem Gespräch hatte es die Chefärztin geschafft, sämtliche Fortschritte der letzten zwei Wochen zunichte zu machen. Sie kommt ein oder zweimal Mal im Jahr in die Tagesklinik, um die Visite zu halten, putzt die Patienten runter und geht wieder. Das Team steht wie begossene Pudel da und kann wieder von vorne beginnen, die Patienten aufzurichten. Das muss für alle niederschmetternd sein. Ich fragte mich ernsthaft, ob sie an den Erfolg dieser Methode glaubte oder ob ihr das gleichgültig wäre?
Außerdem war ich sehr enttäuscht, dass weder meine Therapeutin noch die Oberärztin mich unterstützt hatten, konnte es aber verstehen. Vermutlich hätte das für Beide ähnliche Konsequenzen haben können, die ich auch befürchtete. Einer »Narzisstin« widerspricht man nicht.
Tagebuch:
Chefarztvisite: Hat versucht mich ständig zu provozieren. Habe ihr gesagt, dass mir das nichts bringt. Bin aufgestanden und gegangen.
Werte: Mut, Würde, Aufrichtigkeit, Beitrag, Achtsamkeit, Selbstmitgefühl.
Starke Panikattacke am Abend.
Behandlungsprotokoll:
CA-Visite: Bisherige Therapien werden resümiert. Bisherige Akzeptanzprobleme werden hinterfragt. Er beschreibt, an Akzeptanz der Gedanken vor Angst vor Tod des Vaters zu arbeiten. Rigidität (Anmerkung des Autors: Starres Festhalten an früheren Einstellungen, Gewohnheiten, Meinungen auch Unnachgiebigkeit) im Denken wird deutlich. Tatsächliche Auseinandersetzung mit Zukunftsperspektive bleibt auf sehr vager Ebene.
Verspricht sich Besserung seiner Probleme vor allem des Umgangs mit seinen Gedanken durch die ambulante Therapie. Hat Angst vor dem Alleinsein, Angst vor finanziellen Schwierigkeiten. Reagiert auf Konfrontation mit Zielsetzung der Reha (Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit statt Erholung) stark verärgert. Springt auf und verlässt Raum, solche Gespräche könne er nicht brauchen. Geringe Leidtoleranz.