Entschärfung funktioniert nicht?

InhaltVorwortÜber den AutorAnhang

Entschärfung funktioniert nicht?

14.–17. Juli 2011

Am nächsten Tag meldete ich mich krank. Ich war nicht in der Lage in die Tagesklinik zu gehen. Ich sprach mit meiner Therapeutin am Telefon und teilte ihr mit, wie sehr mich die Visite von gestern belasten würde. Ich war immer noch wütend und ließ das an der Therapeutin aus. Ich teilte ihr mit, dass ich mich von der Chefärztin provoziert gefühlt hatte. Ich erzählte ihr von der schlimmen Panikattacke gestern und den Suizidgedanken. Ich machte ihr sehr deutlich, dass ich das Verhalten der Chefärztin unmöglich fand und ich mir so etwas nicht gefallen lassen müsse. Außerdem erklärte ich ihr, dass Erholung für mich nicht gleichbedeutend mit Schonung wäre, was die Chefärztin offensichtlich gedacht hatte.

Sie beruhigte mich. Die Frage, die mich am meisten beschäftigte, stellte ich ihr aber nicht. Ich traute mich nicht und außerdem wollte ich sie nicht in Verlegenheit bringen, schließlich war ich auf ihre Hilfe angewiesen. So blieb die Frage, ob sie die Chefärztin über unsere Vereinbarung informiert hatte oder nicht, unausgesprochen. An meinem Vertrauen in sie änderte das aber nichts.

Tagebuch:

Habe mich heute krankgemeldet, mit Therapeutin am Telefon gesprochen.

Werte: Achtsamkeit, Selbstmitgefühl

Behandlungsprotokoll:

Herr H. ist heute nicht Anwesend, er hat telefonisch mit Therapeutin gesprochen

Ärztl. Verlaufsbericht: Anruf Herr H. Er wolle noch mal über die Visite sprechen. Sei stinksauer gewesen und immer noch wütend. Habe sich von CA (Chefärztin) provoziert gefühlt. Habe ganzen Abend dann Beklemmung und Panik bekommen wieder verstärkte Angst, dass Eltern sterben, Bilder vom Tod des Vaters. Habe auch wieder Suizidgedanken gehabt. Er habe dann 2 Tabl. Atosil genommen. Die Visite und der Eindruck der Provokation wurden besprochen. Akute Suizidalität besteht nicht.

18. Juli 2011
0-0-0-0 mg Tavor

Am Montag musste ich mich regelrecht dazu zwingen, um in die Tagesklinik zu gehen. Das Wochenende war hart gewesen. Ich hatte mich die meiste Zeit durch PC Spielen von den immer stärker werdenden Gedanken meiner »Horrorgeschichte« abzulenken versucht. Das Problem war, dass diese »Geschichte« nun Mal wahr war bzw. wahr werden würde. Auch wenn es aus ACT-Sicht keinen Unterschied macht, ob die Geschichte nun wahr ist oder nicht, wurde es für mich zu diesem Zeitpunkt immer schwerer sie zu entschärfen.

Das lag daran, dass die auftauchenden Gefühle einfach viel stärker waren und die Gedanken sich mir massiv aufdrängten und so mehr Gewicht zu haben schienen. Ich probierte immer öfter die Entschärfung anzuwenden, um diese schlimmen Gedanken loszuwerden.

Entschärfung funktioniert doch! Merke: Negative Gedanken zu entschärfen heißt nicht, sie loszuwerden.

Das Problem daran ist, dass das nicht funktioniert, wie Russ Harris schreibt:

Negative Gedanken zu entschärfen heißt nicht, sie loszuwerden. […] Viele Menschen, die zum ersten Mal dem Konzept der Defusion begegnen, tappen in eine Falle: Sie versuchen Entschärfung als Kontrollstrategie zu benutzen, sie versuchen, ihre Erfahrung anders zu machen, als sie ist.

Jetzt hätte ich einen erfahrenen ACT-Therapeuten gut gebrauchen können. Ich hatte zwar gelernt das Gedanken nur Worte im Inneren meines Kopfes sind, Bilder Ansichten im Inneren meines Kopfes sind und Empfindungen Gefühle im Inneren meines Kopfes sind, aber diese waren so stark, das ich ständig mit meiner persönlichen Horrorgeschichte verschmolz. Ich versuchte mit aller Gewalt, das anzuwenden, was ich jahrelang gelernt und geübt hatte, negative Gedanken durch positive Gedanken zu ersetzen, aber dieses Konzept funktionierte nicht mehr und das neue ACT-Konzept griff noch nicht, da ich kaum Übung darin hatte. Wie bei allen ACT-Techniken ist das Training dieser Fertigkeiten am wichtigsten, um diese auch dann anwenden zu können, wenn man vom Kampf der im Inneren tobt, überrollt wird, wie von einem Tsunami.

Das einzig positive an diesem Tag war das neue Bild, das ich geschaffen hatte. Die Helligkeit und die Fröhlichkeit der Farben passten so gar nicht zu meiner Stimmung. Trotzdem schaffte ich es beim Malen im »Hier und Jetzt« und vollkommen verbunden mit der Tätigkeit zu sein und die furchbaren Gedanken waren für zwei Stunden nicht präsent.

© Markus Hüfner, Juli 2011 | »Blühendes Rapsfeld« | zum Vergrößern auf das Bild klicken

© Markus Hüfner, Juli 2011 | »Blühendes Rapsfeld« | zum Vergrößern auf das Bild klicken

Tagebuch:

Ergo: Bild von einem Rapsfeld mit Baum gemalen, super. (Kreativität, Freude, Erfolg, Selbstbestätigung).

Vermehrte Gedanken seit der Visite, Grübeleien über Tod des Vaters, Ablenkung durch PC spielen.

Behandlungsprotokoll:

Am Sonntag seien wieder verstärkt Grübeleien dagewesen. Thematik ist wieder die Angst, dass Vater sterben könne. Die Gedanken seien nach Visitensituation wieder stärker da. Akute Suizidalität besteht aktuell nicht.

InhaltVorwortÜber den AutorAnhang

Nach Oben