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Der Anfang vom Ende?
Bevor du Freundlichkeit als das Tiefste in dir erkennen kannst, musst du Leid als das andere Tiefste kennenNAOMI SHIHAB NYE
17. Februar 2011
Medikation: 60 mg Paroxetin | 30 mg Mirtazapin | 0-0-0-2 mg Tavor 1
»Heute hat sich alles geändert!«
So steht es in meinem Tagebuch. Mein Vater war gerade mit Verdacht auf Schlaganfall ins Krankenhaus gekommen.
Ich hatte mir schon zu vor oft Gedanken darüber gemacht, was wohl passieren würde, wenn meine Eltern mal nicht mehr da sein sollten bzw. was deren Tod mit mir machen würde. Ich liebe meine Eltern über alles und ich habe ihnen sehr viel zu verdanken. Sie haben mir nie Vorwürfe wegen all meiner psychischen Probleme gemacht, mich immer so gut es ging unterstützt und mir ihre Liebe und ihr Mitgefühl geschenkt.
Ich habe bereits früh im Leben zwei wirklich schmerzhafte Verluste erlebt. Ich habe meinen Großvater (mütterlicherseits) an Demenz erkranken und sterben sehen. Ich habe meinen Großvater sehr geliebt, er war ein sehr warmherziger und liebevoller Mensch. Es war schwer ihn so leiden sehen zu müssen, auch wenn viele behaupten, dass ein Demenzkranker nicht viel mitbekommt, glaube ich das nicht wirklich. Meine Mutter hatte ihn zu uns geholt, nachdem seine Frau durch einen Schlaganfall plötzlich verstorben war (sie viel einfach um und war tot) und pflegte ihn, nachdem er an Demenz erkrankte. Ich half ihr ab und zu dabei, rasierte ihn und sprach oft mit ihm. Meistens hörte ich ihm einfach zu, auch wenn das, was er sagte, natürlich oft wirr war oder sich wiederholte. Er erzählte viel vom Krieg, von Russland, wo er als Soldat der Wehrmacht diente. Ich fand es immer bewundernswert, dass er sich trotz der grausamen Dinge, die er erlebt hatte, sein Mitgefühl und seine Herzlichkeit bewahrt hatte und nicht wie viele Andere zu einem verbitterten Menschen wurde. Ich war sehr stolz auf meinen Opa. Als er starb, war ich bei ihm, er erkannte mich und lächelte, sagte meinen Namen, als ich seine Hand hielt und mich von ihm verabschiedete. Das war eine Erfahrung, die sich tief in mir einprägte. Ich konnte nicht verstehen, wie ein so lieber und wundervoller Mensch so sehr leiden musste. Das war das erste Mal, das ich mich mit dem Sterben auseinandergesetzt hatte, obwohl es nicht der erste schmerzliche Verlust in meinem Leben war.
Ich erinnere mich gerne an unsere Erlebnisse mit ihm. Er machte unser Leben zu einem echten Abenteuer
In meiner Jugendzeit hatten wir einen Hund, einen Dackel namens Philipp. Den Namen gaben wir ihm, weil er am ersten Abend bei uns, vor lauter Aufregung von einem Zimmer ins nächste flitzte, Dinge apportierte und einfach nicht zu beruhigen war (es war alles neu für ihn und er war noch sehr jung). Das erinnerte meinen Bruder und mich an den Zappelphilipp aus dem Märchen. Wir hätten ihm keinen besseren Namen geben können. Er war ein Wirbelwind, er büxte ständig aus, fand immer einen Weg nach draußen, obwohl mein Vater unser ganzes Grundstück zu einer Festung ausgebaut hatte, mit Zäunen, einer Hecke, Bretterwände. Ich erinnere mich gerne an unsere Erlebnisse mit ihm. Er machte unser Leben zu einem echten Abenteuer. Bei allem Ärger und allen Sorgen, die er uns bereitete, gab er auf der anderen Seite so viel Liebe und Wärme und schenkte uns viel Freude.
In unserer Siedlung war er legendär. Die Nachbarn riefen immer laut, wenn einer merkte, wie er mal wieder einen Weg aus der Festung gefunden hatte und wie ein geölter Blitz die Straße rauf jagte, auf der Suche nach dem nächsten Abenteuer (oder der nächsten läufigen Hündin). Dann rannte entweder mein Bruder oder ich hinter ihm her und versuchten ihn einzuholen. Zum Glück machte er öfters Pinkelpausen auf seiner Flucht, so dass wir ihn meistens schnappen konnten. Hätte er das nicht getan, wir hätten ihm nicht lange folgen können. Manchmal entwischte er unbemerkt oder wir konnten ihm nicht folgen, weil uns die Puste ausging. Wir suchten ihn dann stundenlang mit dem Auto und machten uns große Sorgen, dass ihm etwas passiert sein konnte. Nach einigen Stunden erhielten wir dann einen Anruf von Jemanden, der ihn in seinem Garten gefunden hatte (meistens bei Besitzern von läufigen Hündinnen). Wir hatten ihm eine Marke mit unserer Telefonnummer für diese Fälle an sein Halsband gehängt. Eine seiner schlechten Gewohnheiten war, dass er gerne auf Plastik rumkaute. Vor allem unsere Playmobil-Figuren hatten es ihm besonders angetan, aber auch die Plastikblumentöpfe im Garten (er fand immer etwas, trotz aller Vorkehrungen, die wir unternahmen). Mein Bruder und ich hatten eine Menge verstümmelter Playmobil-Figuren, denen ein Bein, ein Arm oder gar der ganze Kopf fehlte (unsere Freunde fanden das irgendwie cool). Trotzdem konnten mein Bruder und ich ihm nie lange böse sein.
Leider sollte diese Vorliebe für Plastik ihm zum Verhängnis werden, denn er schädigte damit seinen Magen, auch wenn er nur wenig Plastik wirklich runterschluckte, aber über die Jahre zerstörte es wohl seinen Magen. Er wurde trotzdem sehr alt und hatte ein glückliches Hundeleben (ich habe mal in einer Fachzeitschrift gelesen, dass wenn Hunde oft auf dem Rücken liegen und alle viere von sich strecken, sich besonders sicher und geborgen fühlen und Philipp lag ständig so da). Als er starb, lag er einen Tag und eine Nacht in seinem Körbchen, schwer atmend und leise winselnd vor Schmerzen. Wir hatten ihn zuvor zum Tierarzt gebracht, der ihm aber leider nicht helfen konnte. Er riet uns, noch einen Tag abzuwarten, ob sich sein Zustand bessern würde, wenn nicht müsste er ihn einschläfern. Ich weiß nicht mehr, wie lange ich in dieser Nacht an seinem Körbchen saß und ihn streichelte und beruhigte. Frühmorgens brachten ihn mein Bruder und mein Vater zum Tierarzt, ich verabschiedete mich von ihm, ich war sehr traurig, streichelte ihn und sagte, dass er es bald geschafft hätte und erlöst würde. Er wurde schließlich eingeschläfert und mein Vater begrub ihn in unserem Garten.
Ein Bild von ihm stand bis vor Kurzem auf dem Kamin, ehe ich es mir holte und auf meinen Meditationsplatz stellte. Seitdem ist er mein Herzensöffner beim Meditieren.
Es riss mir den sprichwörtlichen Boden unter den Füßen weg. Ich machte mir Gedanken, dass es meine Schuld sein könnte, dass das passiert war
Als mein Vater mit Verdacht auf Schlaganfall ins Krankenhaus kam und ich nicht wusste, ob ich ihn je wiedersehen würde, löste das die Erinnerungen an diese schmerzlichen Verluste aus und auch heftige Schuldgefühle, dass es meine Schuld sein könnte, dass das passiert war. Zum Glück hatte ich genau an diesem Tag ein Therapiegespräch mit meiner Therapeutin, so dass diese mich ein wenig auffangen konnte. Sie versicherte mir, dass es bestimmt nicht meine Schuld sei, denn Schuld bestehe nur, wenn man etwas absichtlich tut und das hätte ich nicht getan. Das war tröstlich, änderte aber an meinen Schuldgefühlen nichts.
Am Abend bekam ich eine heftige Panikattacke. Ich hatte auch früher schon Panikattacken gehabt, das war nichts Neues für mich. Diese waren aber um einiges heftiger und schlimmer. Vor allem aber waren die Symptome ganz anders, so dass ich es nicht als Panikattacke erkannte. Selbst wenn du glaubst, das dich eine Panikattacke nicht mehr überraschen und von den Füßen hauen kann, weil du schon so viele erlebt und durchlebt hast, hilft dir das nicht wirklich, wenn wieder eine angerollt kommt, wie ein Tsunami. In dem Moment kannst du nicht mehr klar denken und sämtliche Strategien sind zum Scheitern verurteilt. Früher hatte ich bei Panik vor allem starkes Herzrasen und Hyperventilieren. Jetzt waren es starke Beklemmung und Schmerzen in der Brust, es fühlte sich an, als ob jemand einen Gürtel um meine Brust gelegt hätte und diesen immer enger zuzog. Ich glaubte, meine Rippen müssten jeden Moment brechen und konnte nicht mehr richtig atmen. Innerlich wurde es mir ganz heiß, so als ob glühendes Magma rasend schnell an die Oberfläche strömte und meinen Brustkorb sprengen wollte. Alles, was ich noch tun konnte, war eine Tavor zu nehmen und abzuwarten. Tavor (Lorazepam) ist ein Beruhigungsmittel, ein sogenanntes Benzodiazepin, dass ich als Bedarf bei Panikattacken schon vor Jahren verschrieben bekommen hatte, aber nur selten benutzte.
Tagebuch:
Papa mit Verdacht auf Schlaganfall ins Krankenhaus gekommen u. ich bin erst mal zusammengebrochen, habe eine Tavor genommen. Gespräch mit meiner Therapeutin Frau S., zum Glück hatte ich diesen Termin, konnte aber kaum etwas aufnehmen, obwohl es ein gutes Gespräch war, aber heute hat sich alles geändert!!!!! Noch eine Tavor am Abend.
19. Februar 2011
Medikation: 60 mg Paroxetin | 30 mg Mirtazapin | 0-0-0-2 mg Tavor
Tagebuch:
Abends erfahren, dass mit Papa alles in Ordnung ist, Herzrhythmusstörung. Habe große Angst ihn zu verlieren. War grausam so lange nicht zu wissen, was mit ihm ist, ob ich ihn je wieder sehen werde? Totale Erleichterung!!!!!
21. Februar 2011
Medikation: 60 mg Paroxetin | 30 mg Mirtazapin | 1-0-0-0mg Tavor
Tagebuch:
Papa ist wieder zu Hause u. es ist alle in Ordnung, geht ihm gut, habe ihn fest umarmt und gesagt, wie lieb ich ihn habe.
Die Albträume waren so grausam realistisch, dass ich schweißgebadet und völlig fertig aufwachte und dachte, es wäre tatsächlich passiert.
Mittwoch, 23. Februar 2011
Medikation: 60 mg Paroxetin | 30 mg Mirtazapin | 0-0-2-0 mg Tavor
Kurz darauf fingen die Albträume an. Ich sah meinen Vater sterben und wie ich im Anschluss daran Suizid beging. Das war so grausam realistisch, dass ich nach jedem Albtraum schweißgebadet und völlig fertig aufwachte und dachte, es wäre tatsächlich passiert und ich müsste mich jetzt umbringen. Ich musste dann schon morgens eine Tavor nehmen, um den Tag überhaupt zu überstehen. Nach einem Telefongespräch mit meiner Fachärztin empfahl mir diese mich an den Arzt vom Dienst der psychiatrischen Institutsambulanz zu wenden. Nach einem Notfallgespräch teilte mir dieser mit, dass ich wieder in die Tagesklinik gehen solle, da die Station völlig überbelegt sei. Im Anschluss daran musste ich gleich 2 Tavor zu nehmen, um eine schwere Panikattacke zu vermeiden.
Tagebuch:
MEGAKRISE !!! Nach Albtraum in der Nacht. Mit Fachärztin gesprochen, mit Arzt vom Dienst gesprochen, Station überbelegt. Ich soll es in der Tagesklinik probieren. 2 Tavor genommen, jetzt geht es einigermaßen wieder.
24. Februar 2011–01. März 2011
Medikation: 60 mg Paroxetin | 30 mg Mirtazapin | 1-0-0-0 mg Tavor
Tagebuch:
Schwere Krise, keine Eintragungen.
Fussnoten:
1. Paroxetin: SSRI-Antidepressivum, Mirtazapin: Tetrazyklisches Antidepressivum (älteres Antidepressivum), Tavor (Lorazepam): Benzodiazepin