© https://unsplash.com/

Größtenteils keine eigene Wirkung: Warum trotzdem immer mehr Antidepressiva verschrieben und verkauft werden?

Lesedauer: 13 Minuten

Obwohl die Wirkungslosigkeit von »SSRI-Antidepressiva« durch die Kirsch-Studie längst nachgewiesen ist und die zum Teil lebensgefährlichen Nebenwirkungen wie erhöhtes Suizidrisiko, Abhängigkeitspotenzial und die Tatsachen, dass diese Medikamente aggressiv und gewalttätig machen können, längst bekannt sind, verschreiben Ärzte immer mehr dieser Medikamente. Warum ist das so?

In meiner Abhandlung zum Thema Antidepressiva habe ich die Gründe dafür ausführlich genannt. Dabei habe ich die Problematik aus unterschiedlichen Perspektiven betrachtet, die meiner Meinung nach alle eine wichtige Rolle spielen:

  • wissenschaftliche Sichtweise (Neurobiologie, Psychologie)
  • wirtschaftliche und politische Sichtweise (Die unheilvolle Allianz von Pharmaindustrie und Psychiatrie)
  • psychosoziale Sichtweise (Selbstwertproblematik, kognitive Dissonanz), meiner Meinung nach die wichtigste und meist unterschätzte Problematik hinsichtlich der Verbindung von Wissenschaft, Pharmaindustrie, Psychiatrie und Patienten.

Neue Übersichtsstudie

Eine neue Übersichtsstudie aus dem Jahr 2018 des unabhängigen Nordic Cochrane Centre bestätigt die Ergebnisse von Irving Kirsch. Es wurden 522 klinische Untersuchungen mit 116.477 Teilnehmern ausgewertet. Das Ergebnis fasst der Leiter der Studie, Dr. Klaus Munkholm, folgendermaßen zusammen:

Was wir herausgefunden haben ist folgendes: Die Wirkung von Antidepressiva und Placebo unterscheidet sich nur um 1,97 Punkte auf einer Skala von 52 Punkten. Dieser Unterschied ist minimal.

Eine Verbesserung um nur 1,97 Punkte auf der Hamilton Skala ist eine so minimale Verbesserung der Depression, dass sie von einem Arzt nicht festgestellt werden kann.

Considering the methodological limitations in the evidence base of antidepressants for depression: a reanalysis of a network meta-analysis (englisch)

Beitrag Schweizer Fernsehen: Antidepressiva nicht besser als Placebo von depression-heute.de zur Übersichtsstudie des Nordic Cochrane Centre (deutsch)

Trotz eindeutiger Fakten steigt die Verschreibung von Antidepressiva weiter.

Bemerkenswert ist, dass selbst die Psychiater und Ärzte, die Antidepressiva verschreiben, kaum Vertrauen in diese haben, das zeigt eine Studie.
Laut einer Studie von Mendel und Kollegen aus dem Jahr 2010 würden nur 40% aller Psychiater Antidepressiva selbst einnehmen, die sie leichtfertig und oft ohne auf deren Risiken und Nebenwirkungen hinzuweisen ihren Patienten verordnen. Das bedeutet, dass die Mehrzahl der Psychiater Antidepressiva zur Behandlung empfehlen, von denen Sie selbst nicht überzeugt sind, dass diese ihren Patienten helfen und nicht schaden werden und das die meisten Psychiater*innen auf die Frage von ihren Patienten Was würden Sie an meiner Stelle tun?, diese anlügen, das zeigt die folgende Grafik (linkes Diagramm):

Gegenüberstellung: Verordnung von Antidepressiva und Antipsychotika durch Psychiater und ob sie diese selbst einnehmen würden?

© Cambridge University Press: 02 January 2018

  • 1. Säule zeigt, die reguläre Empfehlung, die sie einem Patienten geben würden, wenn sie der behandelnde Arzt wären. (regular recommendation role)
  • 2. Säule zeigt, was Psychiater ihren Patienten empfehlen würden, wenn diese sie fragen würden, was sie an ihrer Stelle tun würden. (what-would-you-do role)
  • 3. Säule zeigt, was sie selbst tun würden, wenn sie Depressionen hätten. (self-role)

Bei den Antipsychotika (rechtes Diagramm) ist das Vertrauen mit unter 20% noch geringer.

What would you do if you were me, doctor?: randomised trial of psychiatristsʼ personal v. professional perspectives on treatment recommendations.

Hier nun eine Zusammenfassung:

  • Die meisten Studien über Psychopharmaka wurden von der Pharmaindustrie selbst erstellt und es werden stets nur die Studien veröffentlicht, die die propagierten Thesen untermauern, die anderen werden verschwiegen (siehe Kirsch-Studie). Zur Untermauerung der Thesen, gewinnt man einen, oder am besten mehrere Psychiater, die sich einen Namen machen wollen. Gerade für viele Psychiater ist es das höchst erreichbare (und höchst fragwürdige) Ziel, eine neue psychische Störung zu entdecken (sich auszudenken, wäre treffender), die an den eigenen Namen gekoppelt ist und in das »Diagnostische und Statistische Manual Psychischer Störungen (kurz DSM)« aufgenommen wird.
  • Die FDA (amerikanische Gesundheitsbehörde), die für die Zulassung von Medikamenten zuständig ist, wird von der Pharmaindustrie kontrolliert. Es geht nicht darum, möglichst sichere Medikamente zuzulassen, sondern neue Medikamente möglichst schnell auf den Markt zu bringen.
  • Fehlende oder nicht ausreichende Aufklärung von Ärzten über Risiken und Nebenwirkungen von Psychopharmaka: Verschreiben Ärzte Medikamente, müssen sie auf Risiken und Nebenwirkungen hinweisen. Diese Pflicht haben sie auch, wenn bereits der Beipackzettel des Präparats vor den Risiken warnt. Dies hat der BGH (Bundesgerichtshof) in einem Urteil (Az. VI ZR 289/03) entschieden. Leider hilft dieses Urteil den Patienten, die Gesundheitsschäden durch Psychopharmaka erleiden gar nicht. Ich habe dazu eine Rechtsanwältin für Medizinrecht befragt, warum das so ist (Stellungnahme der Rechtsanwältin). Hinzukommt, dass viele Ärzte diese Pflicht offensichtlich nicht ernst nehmen und Patienten gar nicht oder mangelhaft über die Risiken und Nebenwirkungen von verordneten Psychopharmaka aufklären.
  • Den Psychiatern, die diese Medikamente verschreiben, oft in dem Wunsch ihren über Jahre und Jahrzehnte leidenden Patienten endlich schnell und ohne langwierige Psychotherapie helfen zu wollen, muss man den Vorwurf machen, ihre Behandlungsmethoden nicht zu hinterfragen.
  • Das Standardwerk für psychische Störungen, das DSM (Diagnostische und Statistische Manual Psychischer Störungen), nimmt immer mehr normale Gemütszustände (Trauer, Schüchternheit usw.) als pathologisch-psychische Krankheiten auf, die somit behandlungsbedürftig durch Psychopharmaka sind. Somit gelten immer mehr Menschen als psychisch krank und bekommen Psychopharmaka. Geltungssüchtige Psychiater erfinden neue psychische Störungen (wie Ellen Leibenluft), um als Entdecker einer Störung namentlich im DSM genannt zu werden. Treibende Kraft hinter dem DSM ist die Pharmaindustrie. Sinn und Zweck ist es, neue Absatzmärkte für Psychopharmaka zu schaffen.

Falsche Gesetze und fehlendes Bewusstsein in der Öffentlichkeit

Die Pharmafirmen schieben jegliche Verantwortung auf die Ärzte ab und der Beipackzettel sichert sie gegen jede Form von Klagen durch Patienten ab. Das würde sich erst ändern, wenn Pharmafirmen nachweisen müssten, dass ihre »Produkte« nicht gesundheitsgefährdend sind. Ein Patient oder eine Gruppe von Patienten haben weder die finanziellen Mittel noch die Kraft und Energie einen jahrelangen zermürbenden Prozess gegen mächtige Pharmafirmen zu führen.

Einige versuchen es trotzdem:

  • Bob Fiddaman, der für sein Engagement und seine Aufklärung über die Methoden von GSK zweimal von der Kommission für Menschenrechte ausgezeichnet wurde und dessen Blog etwa 1,5 Millionen Leser hat.
  • The Pill that steals: Website der Dokumentarfilmerin und Autorin des Buches »The Pill that steals lives« Katinka Blackford Newman, in dem sie ihre eigene SSRI-Geschichte erzählt. Auf ihrer Website bietet sie SSRI-Opfern eine Plattform, um ihre SSRI-Geschichte zu erzählen.

Zufriedenstellendes Erklärungsmodell für Alle

»Ich war wehrlos. In meinem Körper liefen chemische Prozesse ab, die ich nicht beeinflussen konnte«, beschreibt die Skirennläuferin Lindsey Vonn ihre Depression. Und: »Ich bin zum Glück sehr bald zum Arzt gegangen. Er hat mich mit Medikamenten behandelt.«1

In Drüberleben, dem viel gelobten Roman der Bloggerin Kathrin Weßling, sagt die Hauptfigur Ida über sich: »Ich bin ein menschlicher Verkehrsunfall.« Sie geht in eine Klinik. Dort bringt man ihr bei, was ihr die Lust am Leben nahm: »… kein Schicksal, keine Bestimmung«, schreibt Weßling, »nur ein bisschen Serotonin, das fehlt.«2

Auch die »Deutsche Depressionsliga«, die größte Organisation Betroffener, erläutert die Krankheit so. In der aktuellen Broschüre »Depressionen – Ein Leitfaden für Betroffene und Angehörige« heißt es auf Seite 17 und 18:

Vor dem Hintergrund, dass Depressionen biochemisch vor allem über einen gestörten Hirnstoffwechsel erklärt werden können, greifen Antidepressiva, vereinfacht ausgedrückt, in diesen Stoffwechsel ein, indem sie eine Fehlfunktion von Transmittern (Botenstoffen) regulieren. Für das Depressionsgeschehen sind Serotonin und Noradrenalin die wichtigsten Botenstoffe. […] Antidepressiva, welche übrigens nicht abhängig machen, werden je nach Angriffspunkt im Gehirn in verschiedene Kategorien eingeteilt. […] So gehören z.B. sog. selektive Serotoninwiederaufnahmehemmer (SSRI) zu den meist verschriebenen Antidepressiva, u.a. auch deshalb, weil sie weniger gravierende Nebenwirkungen hervorrufen als ältere Substanzen wie die sog. Trizyklika. […] In einigen Fällen muss der Patient auch mehrere Antidepressiva gleichzeitig einnehmen, um eine zufriedenstellende Wirksamkeit zu erreichen. […] Antidepressiva werden in aller Regel über einen längeren Zeitraum eingenommen. Auch nach Abklingen der akuten Symptomatik soll der Betroffene das verordnete Medikament über einige Monate (in schweren Fällen sogar über mehrere Jahre) einnehmen, dies um einen Rückfall in einen erneuten Depressionsschub zu vermeiden.

Ich habe daraufhin die »Deutsche DepressionsLiga e.V.« angeschrieben und um eine Stellungnahme gebeten, warum in der Broschüre zwar SSRI-Antidepressiva als erfolgreiche Behandlungsmethode empfohlen werden, man aber nicht auf die Risiken und Nebenwirkungen hinweist, die eine solche Behandlung haben kann. Eine Stellungnahme habe ich erhalten. Allerdings wies diese gravierende Widersprüche zu den in der Broschüre behaupteten Thesen auf. Nachdem ich die »Deutsche DepressionsLiga e.V.« darauf erneut um eine Stellungnahme bat, hat diese mir verboten ihre Stellungnahmen zu veröffentlichen. Dazu habe ich einen Beitrag verfasst:

Die »Deutsche DepressionsLiga e.V.« verharmlost in Ihrer aktuellen Broschüre SSRI-Antidepressiva

Diese Aussagen zeigen, wie tief diese dogmatische These in unsere Köpfe eingedrungen ist und sich als allgemeines Erklärungsmodell für die Ursache von Depressionen überall durchgesetzt hat, ohne das je ein Beweis dafür existiert hätte und mit welcher gefährlichen Leichtfertigkeit die Risiken, Nebenwirkungen und die Abhängigkeitsproblematik abgetan werden.

Die Serotonin-These wird in Psychiatrien in Depressionsgruppen den Patienten als Standarderklärung für ihre Depression präsentiert, seit Jahrzehnten (ich saß oft genug in solchen Gruppen und jede kritische Frage meinerseits wurde entweder ignoriert oder verharmlost).

Viele Patienten sind erleichtert, dass ihre psychische Störung, eine scheinbar körperliche Ursache hat, nämlich ein Ungleichgewicht von Botenstoffen im Gehirn und das dieses Ungleichgewicht durch die Einnahme eines Medikamentes beseitigt werden kann und oft führt das tatsächlich dazu, dass es ihnen besser geht, wegen des Placeboeffekts. Die Ärzte können ein Heilmittel anbieten und die Pharmaindustrie verkauft genau dieses Heilmittel.

Die verheerenden Nebenwirkungen, wie aggressives und gewalttätiges Verhalten, Persönlichkeitsveränderungen, Suizidalität und Folgeerkrankungen wie Manien und Psychosen werden dabei nicht erwähnt. Diese Standarderklärung steht in jedem Lehrbuch und jedem Fachbuch über Depressionen. Es wurde auf Tausenden von Webseiten im Internet verbreitet. Selbst nachdem zweifelsfrei bewiesen ist, dass dieses Erklärungsmodell falsch ist, wird es weiter so gelehrt und verbreitet.

Die Rechtfertigung lautet oft: Die Patienten sind mit diesem Erklärungsmodell zufrieden, sie sind erleichtert und können ihre Krankheit erklären. Es geht ihnen damit besser.

Angesichts der bekannten Risiken und Nebenwirkungen ist das unverantwortlich.

Ein Patient, der in der Psychiatrie Psychopharmaka ablehnt, wird oft als unbequem und kritisch eingestuft. Patienten, die zu viele Fragen bzgl. ihrer Behandlung haben, sind lästig. Oft fehlt Ärzten in Psychiatrien aber auch das nötige Fachwissen bzw. die Bereitwilligkeit, Behandlungsmethoden zu hinterfragen oder ihr Wissen auf den neuesten Stand zu bringen. So erfolgen z. B. immer noch ein Drittel aller Behandlungen mit Benzodiazepinen nicht nach den Leitlinien3 und das hat häufig katastrophale Folgen für Betroffene.

Es wird sehr viel Zeit und Überzeugungsarbeit nötig sein, um dieses dogmatische Erklärungsmodell, das jahrzehntelang gültig war und immer noch ist, zu ändern, falls das überhaupt möglich ist, bei der Macht der Pharmaindustrie. Hier wären die Universitäten und Fachhochschulen für Medizin und Psychologie in der Pflicht, ihren Studenten das notwendige Wissen zu vermitteln.

Neuer Absetzmarkt: Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren

Die Psychopharmaka-Industrie hat Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren als neuen gigantischen Absetzmarkt ausgemacht und versucht mit allen Mitteln, Psychopharmaka auch an diese Gruppe zu verkaufen. Dabei schreckt man auch nicht vor drastischen Strafzahlungen zurück, zu verlockend und lukrativ ist das potenzielle Geschäft.

Pharmariese zahlt Rekordstrafe:

GlaxoSmith&Kline, der Hersteller von Paroxetin bzw. Paxil (USA), Seroxat (UK), musste 2012 die Rekordstrafe von 3 Milliarden US-Dollar an die amerikanische Justiz bezahlen, weil man das Medikament zur Behandlung von Depressionen bei Kindern und Jugendlichen unter 18 Jahren beworben hatte (anders, als in Deutschland, dürfen in den USA Pharmafirmen ihre Produkte direkt bewerben), obwohl das Mittel von der US-Gesundheitsbehörde FDA dafür nicht zugelassen war.4

Manche Firmen sind für verkaufsfördernde Zwecke sogar bereit, den Tod von Kindern und Jugendlichen zu akzeptieren, wie der Seroxat-Skandal zeigt.

Ein falsches Verständnis von Krankheit

Der Neurobiologe Gerald Hüther zeigt in seinem Buch »Was wir sind und was wir sein könnten: Ein neurobiologischer Mutmacher«, dass wir Menschen ein völlig falsches Verständnis von Krankheit haben. Er sagt:

Viele Menschen glauben noch immer, dass Gesundheit auf einem besonders hohen Maß an innerer Ordnung beruht und dass Krankheit durch die Störung dieser Ordnung verursacht wird. Sie betrachten den Arzt als einen Reparateur, der abgenutzte Teile identifiziert, wieder in Gang setzt oder, wenn das nicht geht, auswechselt.

Diese Erwartungshaltung vieler Menschen macht sich die Pharmaindustrie zunutze. Sie suggeriert durch die Präsentation eines einfachen Erklärungsmodells und cleverer Marketing-Strategien, dass psychische Krankheiten, wie Depressionen u. a. eine körperliche Ursache haben (ein Mangel an Botenstoffen im Gehirn), die durch die Einnahme von Psychopharmaka »repariert« werden können. Das stellt beide Seiten zufrieden: Der Psychiater kann dem Patienten eine nachvollziehbare und einfache Lösung seines Problems anbieten und auf der anderen Seite werden die Erwartungen des Patienten, das sein Problem schnell und unkompliziert zu lösen ist, erfüllt. Das führt zu einer wechselseitigen Abhängigkeit zwischen Arzt und Patient.5

Allerdings kann nicht mal die Pharmaindustrie mit einer noch so cleveren Vermarktungsstrategie Menschen dazu bringen, sich selbst als Maschinen zu betrachten, die repariert werden können, wenn sie defekt sind. Dafür braucht es fest verankerte innere Überzeugungen. Hüther zeigt, dass diese in der Vergangenheit der zivilisierten westlichen Welt liegen, genauer im Industriezeitalter.

Hüther:

Um eine solche Vorstellung so nachhaltig im Gehirn zu verankern, muss es bei den Vertretern vorangegangener Generationen zu einer Aktivierung ihrer emotionalen Zentren im Gehirn gekommen sein, wenn sie wieder einmal erlebten und über das staunten, was Maschinen alles konnten.[…] Die noch heute verbreiteten und der Reparaturmedizin bis heute zugrunde liegenden Vorstellungen und Überzeugungen verdanken ihre Herausbildung einzig und allein der Bedeutsamkeit, die Maschinen während der Blütezeit des Maschinenzeitalters für Menschen damals gewonnen hatten.

Hüther zeigt in seinem Buch, dass Erfahrungen im Gehirn immer mit einer Emotion gespeichert werden: Was habe ich erfahren und wie habe ich mich dabei gefühlt. Je öfter ein Mensch gleiche Erfahrungen mit gleichen Emotionen macht, umso stärker wird diese Erfahrung mit dieser Emotion verknüpft und bildet immer breiter werdende Bahnen im Gehirn. Aus einem Nervenstrang wird ein Weg, dann eine Straße und schließlich eine breite Autobahn bis hin zu einem Automatismus. Ganz besonders stark werden Erfahrungen im Gehirn verankert, die bei uns Begeisterung auslösen. Deshalb lernen Menschen (insbesondere Kinder) Dinge, die sie mit Begeisterung tun, besonders schnell.6

Liest man nur wenige Berichte über die Errungenschaften des Maschinenzeitalters, begreift man, mit welcher Begeisterung und welchem Enthusiasmus die Einführung der Dampfmaschinen, der Eisenbahn, des Autos, des Telefons, der Flugzeuge bei den Menschen der damaligen Zeit in den Medien gefeiert worden ist. Man war fasziniert davon, bewunderte diese Maschinen, weil sie Leistungen erbrachten, zu denen kein Mensch je imstande gewesen wäre. Aber nicht nur die Leistungen, die Maschinen erbrachten, wurde mit Begeisterung aufgenommen, auch die immer wieder gemachte Erfahrung, dass jede Maschine prinzipiell repariert werden konnte, wenn sie mal nicht mehr funktionierte wurde begeisternd registriert.7

Hüther:

Dadurch kam es im Hirn der Menschen damals, häufiger als wir uns das heute vorstellen können, zur Aktivierung der emotionalen Zentren, die Gießkanne der Begeisterung in ihrem Hirn ging an, und die dabei vermehrt freigesetzten neuroplastischen Botenstoffe sorgten dafür, dass die im Zustand der Begeisterung aktivierten Netzwerke auch gut gedüngt wurden. So wurde die Vorstellung in den Hirnen unserer Vorfahren verankert, dass Maschinen etwas Großartiges sind und sie selbst am liebsten auch, wie Maschinen funktionieren würden. […] Je mehr die Patienten in diesem Reparaturdenken gefangen bleiben, umso stabiler ist die Nachfrage nach entsprechenden Reparaturleistungen und umso besser sind die Verdienstmöglichkeiten für die Vertreter dieser Reparaturmedizin.

Irren ist menschlich

»Jeder Mensch kann irren, aber Dummköpfe verharren im Irrtum!« Dieses Zitat des römischen Rechtsgelehrten Marcus Tullius Cicero verdeutlicht, wie schwer es uns Menschen fällt, Fehler zuzugeben und sich selbst einzugestehen, dass man sich geirrt hat. Ärzte, Politiker, Wissenschaftler, Autoren und Patienten, die die Serotonin-These der Pharmaindustrie vertreten haben, gelehrt haben oder daran geglaubt haben (daran glauben wollten) müssten spätestens jetzt zugeben, dass sie sich geirrt haben. Sie müssten sich eingestehen können, dass sie sich jahrzehntelang von den Pharmafirmen haben täuschen und belügen lassen. Jeder müsste sich den Vorwurf gefallen lassen, sich nicht ausreichend informiert zu haben, diese These nicht in Frage gestellt zu haben und selbst dann weiter daran festgehalten zu haben, als zweifelsfrei bewiesen wurde, dass diese These falsch ist.

Wer gibt schon gerne zu, dass er ein Dummkopf war oder gar noch immer ist?

Dissonanzreduktion: Warum wir uns lieber blenden lassen, als uns der Realität zu stellen?

Warum sich die meisten Menschen lieber blenden lassen, als sich der Realität zu stellen dazu hat die Sozialpsychologie eine logische und wissenschaftlich nachgewiesene Erklärung: Die Dissonanzreduktion. Dieser Begriff wurde von dem Sozialwissenschaftler Leon Festinger aufgrund eines bemerkenswerten Geschehens geprägt:

Das Phänomen der kognitiven Dissonanz

Vor etwa einem halben Jahrhundert veräußerten die Anhänger eines kultischen Glaubens in Wisconsin all ihre Habe, weil ihrer Anführerin prophezeit worden war, dass der Weltuntergang in Form einer gewaltigen Überschwemmung unmittelbar bevorstehe. Anschließend versammelten sich die Sektenmitglieder auf dem höchsten Berg der Umgebung, um gemeinsam die Apokalypse zu erwarten und als Auserwählte von einem UFO gerettet zu werden. Der Weltuntergang trat aber bekanntlich nicht ein, und die Gläubigen standen nun ratlos auf dem Berg.

Leon Festinger interessierte sich dafür, wie sie mit dieser herben Enttäuschung ihrer Erwartung zurechtkommen würden, und machte eine überraschende Entdeckung. Statt etwa frustriert zu sein, an ihrem Glauben zu zweifeln oder gar ihren grotesken Irrtum einzusehen, hatten die vermeintlichen Auserwählten umgehend eine neue Theorie entwickelt: Zweifellos handele es sich hier um eine Prüfung der Festigkeit ihres Glaubens.

Damit war der Widerspruch zwischen Wirklichkeit und Überzeugung beseitigt, und Leon Festinger hatte das Phänomen der kognitiven Dissonanz entdeckt.

Wenn Menschen eine Diskrepanz zwischen ihren Erwartungen und der Realität erleben, die sich praktisch nicht beseitigen lässt, erzeugt das ein tiefes Unbehagen und damit das dringende Bedürfnis, die Dissonanz zum Verschwinden zu bringen oder sie wenigstens zu reduzieren. Daher wird die Wahrnehmung der Wirklichkeit der eigenen Überzeugung angepasst, weshalb Raucher Lungenkrebsstatistiken für überbewertet halten und Anlieger von Kernkraftwerken das Strahlungs- und Unfallrisiko regelmäßig niedriger einschätzen als Menschen, die weit entfernt von Atommeilern leben.

Quelle:»Selbst Denken – Eine Anleitung zum Widerstand« von Harald Welzer, Seite 32 und 33

Der Unterschied zwischen Lüge und Verlogenheit

Die Philosophin Hanna Arendt unterscheidet in ihrer Publikation Wahrheit und Politik zwischen Lügner und Verlogenem.

Demnach weiß der Lügner, dass er lügt, während der Verlogene dies nicht mehr weiß, weil er seine Lüge für die Wahrheit hält.

Daher sagt Hanna Arendt, dass im Lügner die Wahrheit ihre letzte Zuflucht gefunden hat, denn im Verlogenen ist sie verloren gegangen, da er seine eigene Lüge für die Wahrheit hält. Sie schreibt:

Wollte man den Satz: »Es ist besser, andere zu belügen als sich selbst«, den ich für wahr halte, durch Argumente zwar nicht beweisen, aber stützen, so müßte man zu dem, was Dostojewski sagt, nämlich, daß nur der kaltblütige Lügner sich noch des Unterschieds zwischen Wahrheit und Unwahrheit bewußt ist, noch hinzufügen, daß der Wahrheit mit dem Lügner besser gedient ist als mit dem Verlogenen, der auf seine eigenen Lügen hereingefallen ist; sie ist doch nicht ganz und gar aus der Welt herausmanövriert, in dem Lügner selbst hat sie ihre letzte Zuflucht gefunden.

Vergleicht man dies mit der Pharmaindustrie auf der einen und Ärzten/Psychiatern, Wissenschaftlern und Professoren von Universitäten auf der anderen Seite, könnte man sagen, die Pharmaindustrie ist der Lügner, sie weiß, dass sie lügt und kennt die Wahrheit noch, während es auf der anderen Seite wohl viele Verlogene gibt, die die Lügen der Pharmaindustrie so lange eingetrichtert bekommen haben oder so lange sich selbst eingeredet haben, dass die Lügen der Pharmaindustrie wahr sein müssen (sollen), weil nicht sein kann, was nicht sein darf, dass sie die ursprüngliche Wahrheit nicht mehr kennen (kennen wollen) und die Lügen der Pharmaindustrie für die Wahrheit halten und diese aus Überzeugung weiter verbreiten.

Das wäre eine weitere Erklärung für das sture Festhalten an der Wirksamkeit von SSRI-Antidepressiva, obwohl das Gegenteil bewiesen wurde und das Leugnen von folgenschweren Risiken und Nebenwirkungen von SSRI-Antidepressiva.

Wenn sich Geschichte wiederholt

Würden sich Ärzte, Wissenschaftler und Universitäten die Geschichte der Benzodiazepine ansehen, die, wie heute die SSRI-Antidepressiva, auch lange Zeit als harmloses Wundermittel bei Ängsten und Depressionen von der Pharmaindustrie propagiert wurden, bis das Gegenteil bewiesen werden konnte, würden sie erkennen, dass sich die Geschichte heute mit den SSRI-Antidepressiva wiederholt. Heute steht in jedem Beipackzettel von Benzodiazepinen, dass diese schon nach mehr als 10 Tagen regelmäßiger Einnahme zur Abhängigkeit führen können. Es hat lange gedauert, bis dieser wichtige Hinweis dem Beipackzettel von Benzodiazepinen hinzugefügt wurde. Im Beipackzettel von SSRI-Antidepressiva findet sich bis heute das Wort Abhängigkeit nicht, dort wird es als Absetzsyndrom bezeichnet (außerdem wurde mit der Markteinführung des ersten SSRI-Antidepressivum Prozac der Begriff »Sucht« neu definiert).

Dank dem Engagement von einigen Ärzten, Journalisten, Bloggern und Wissenschaftlern wird dieser Problematik immer mehr Aufmerksamkeit geschenkt.

Zwei Mut machende Beispiele:

Die »Charité Berlin« und die »Psychiatrische Universitätsklinik Zürich« wollen nun erstmals spezifisch anhand von Messungen von Gehirnfunktionen untersuchen, zu welchem Zeitpunkt ein sicheres Absetzen von Antidepressiva möglich ist. Es soll auch untersucht werden, ob man beim Absetzen von Antidepressiva zwischen Entzugssymptomen und depressiven Rückfällen unterscheiden kann. Hierzu werden Teilnehmer gesucht. Professor Henrik Walter, Leiter der Studie, von der Charité sieht einen eklatanten Mangel an Wissen bei diesem Thema, bisher gäbe es kaum Langzeitstudien zu diesem Thema. Bisherige Studien würden sich auf ein halbes bis ein Jahr beschränken, so Walter.

Informiere Dich über die Antidepressiva-Absetzstudie

Interview mit Professor Walter im NDR-Gesundheitsmagazin Visite

Doku Antidepressiva: Vorsicht beim Absetzen des NDR-Gesundheitsmagazins Visite.

Erfreulich: In Großbritannien wurden daraufhin die Leitlinien zur Behandlung von Depressionen und für die Rückfallprävention geändert. Die Leitlinien empfehlen die Gabe von SSRI-Antidepressiva nur noch bei schweren Depressionen. Für leichte und mittelschwere Depressionen wird die sehr erfolgreiche und durch Studien als wirksam nachgewiesene »Achtsamkeitsbasierte kognitive Verhaltenstherapie« (MBCT) der Oxoford University empfohlen. In Deutschland gibt es eine ähnliche Leitlinie, leider wird diese in der Praxis kaum angewendet.

Lies den vollständigen Artikel bei ZEIT ONLINE von Julia Friedrichs und Thorsten Padberg »Depressionen: Aus dem Schatten ans Licht«

Beides macht Hoffnung, dass die Ära der SSRI-Antidepressiva endet und Patienten nicht länger als Laborratte der Pharmaindustrie und Psychiatrie missbraucht werden.

Sollte diesen Beitrag ein Arzt oder gar Psychiater lesen: Ich hätte da einen Vorschlag: Bitte nehmen Sie nur eine dieser Tabletten ein, die Sie beabsichtigen einem Ihrer Patienten zu verschreiben und beobachten Sie, was das bei Ihnen physisch und psychisch auslöst und stellen Sie sich dann die Frage, ob Sie das Ihren Patienten ernsthaft zumuten wollen. Immer wieder habe ich es auch erlebt, dass Ärzte/Psychiater insbesondere in Psychiatrien Patienten bei neu angesetzten Psychopharmaka mit einer viel zu hohen Dosis beginnen, auch hier die Bitte, das mal selbst zu probieren, sicher werden Sie feststellen, dass dies einer schweren Körperverletzung gleich kommt. Vielleicht sagen Sie dann auch nicht mehr: Da müssen Sie jetzt mal durch!, wie ich es unzählige Male zu hören bekam.

Und ganz wichtig: Lesen Sie den Beipackzettel, dafür ist er da und klären Sie dann Ihre Patienten ausführlich über Risiken und Nebenwirkungen des zu verschreibenden Psychopharmaka auf. Sie tun Ihren Patienten damit einen großen Gefallen.

Aloha

Fußnoten
1., 2. ZEITmagazin Nr. 25/2016, Julia Friedrichs und Thorsten Padberg »Depressionen: Aus dem Schatten ans Licht«
3. Rüdiger Holzbach: Benzodiazepin-Langzeitgebrauch und -abhängigkeit
4. https://www.focus.de/finanzen/recht/glaxo-akzeptiert-vergleich-milliardenstrafe-fuer-pharmakonzern_aid_776350.html
5., 6., 7. Gerald Hüther: »Was wir sind und was wir sein könnten.«

Veröffentlicht von

Mein Name ist Markus Hüfner. Ich bin Blogger, Webdesigner und Künstler. In diesem Blog schreibe ich über meine Erfahrungen mit der Heilkraft der buddhistischen Psychologie und dem richtigen Reduzieren und Absetzen von Psychopharmaka auf Stand der aktuellen Wissenschaft.