Die Entlassung

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Die Entlassung

Dienstag, 26. April 2011
Medikation: 50 mg Paroxetin | 300 mg Quetiapin 1

In der letzten Gruppenvisite gab es noch mal Grund zur Aufregung für mich. Die Gruppenvisite wurde von einer anderen Therapeutin geleitet, die eigentlich nichts mit mir zu tun hatte. Eine Patientin erzählte gerade, man hätte das Tavor auf Diazepam umgestellt, ein anderes Benzodiazepin und dass es ihr damit deutlich besser gehen würde, die Paniksymptome wären nicht mehr so stark.

Ich dachte, ich höre nicht richtig und sagte aufgebracht zur Therapeutin:

»Sagen Sie mal, wieso haben Sie das denn nicht auch bei mir gemacht? Vielleicht wäre es mir damit auch besser gegangen? Bitte erklären Sie mir das!«

»Ich schlage vor wir reden im Anschluss an die Visite darüber«

und ging nicht weiter darauf ein.

Im anschließenden Gespräch mit Ihr teilte sie mir mit, dass sie nicht wisse, warum man bei mir anders vorgegangen wäre, dass das aber eher ungewöhnlich sei. Um weiteren Ärger am letzten Tag zu vermeiden, der ohnehin die falsche Person getroffen hätte, sagte ich nichts dazu.

Ärzte und Therapeuten, mit denen ich später zu tun hatte, bestätigten mir jedoch ebenfalls, dass es ungewöhnlich sei, einen reinen Tavorentzug zu machen, da dieser sehr viel heftiger und schwieriger wäre, wegen der kurzen Halbwertszeit von Tavor. Die übliche Vorgehensweise wäre, auf ein Benzodiazepin mit einer langen Halbwertszeit umzustellen.

Viele wunderten sich auch darüber, dass man das Tavor gleich am ersten Tag abrupt abgesetzt hatte, da eine Abhängigkeit nach mehr als 14 Tagen regelmäßiger Einnahme sehr wahrscheinlich wäre und das Auftreten von Entzugssymptomen zu erwarten war.

Behandlungsprotokoll:

Gruppenvisite: Patient ist vorwürflich, gereizt, habe durch Tavorentzug starke Entzugssymptome. Habe das Gefühl, ungerecht behandelt zu werden.

Nachdem ich mich von meinen Mitpatienten herzlich verabschiedet hatte, wurde ich von meinem Vater abgeholt. Dieser Albtraum war vorbei. Der nächste sollte aber noch folgen, denn der Entzug begann jetzt erst richtig.

Meine Meinung

Ich leide heute sehr unter den Konsequenzen dieses traumatischen Entzuges. Die dort aufgetretenen schweren körperlichen und psychischen Entzugssymptome halten zum Teil bis heute an und sind chronisch geworden. Dazu kommt eine durch den inkompetenten Entzug ausgelöste schwere Depression, die therapieresistent ist. Keiner kann mir sagen, wie lange diese Entzugssymptome noch anhalten werden, ob sie überhaupt je wieder weggehen werden, das gilt ebenso für die Depression.

Das meine jetzigen körperlichen und psychischen Entzugssymptome und die Depression tatsächlich auf den falschen und zu schnellen Entzug zurück zu führen sind, wird durch die Monografie von Professor Heather Ashton von der Universität von Newcastle upon Tyne, in England, dem »Ashton Manual« bestätigt.

Professor Ashton ist eine der führenden Expertinnen weltweit zum Thema Benzodiazepine und Benzodiazepinentzug. Sie hat von 1982–1994 eine Benzodiazepin-Entwöhnungs-/Entzugs-Klinik für Patienten geleitet und verschiedene detaillierte Entwöhnungsschemata entwickelt, um mögliche Entzugssymptome so gering wie möglich zu halten.

Im Kapitel »Protrahierte Entzugssymptome« heißt es unter Tabelle 4. »Mögliche Ursachen für protrahierte Benzodiazepin-Entzugssymptome«:

Traumatische Erfahrungen während des vorausgegangenen Entzuges

Es hätte viele Möglichkeiten gegeben, mit mir ruhig und verständnisvoll zu reden, es wurde aber nicht getan.

Ich kann nicht verstehen, warum ich im Aufnahmegespräch nicht von meiner Bezugstherapeutin über die Vorgehensweise und den Ablauf des Entzuges aufgeklärt wurde. Selbst die leitende Ärztin hielt dies in der ersten Visite nicht für nötig.

Ich habe meine Meinung während dieser Behandlung stets sozial kompetent geäußert, mit Nachdruck und auch mal etwas lauter, aber ich bin nie ausfallend geworden, habe niemanden persönlich angegriffen und keinerlei Kraftausdrücke, Schimpfwörter oder Ähnliches verwendet. Wenn aber der Kommunikationspartner nicht kritikfähig ist, dann hilft das leider auch gar nichts.

Heute weiß ich, dass es in vielen Psychiatrien nicht gerne gesehen wird, wenn der Patient eine andere Meinung äußert, überhaupt eine Meinung hat. Wenn er Behandlungsmethoden in Frage stellt und bei der Behandlung mitsprechen möchte. Das ist aber Grundvoraussetzung für eine erfolgreiche Therapie. Patient auf der einen Seite und Arzt/Therapeut/Pflegekraft auf der anderen Seite müssen sich auf Augenhöhe begegnen können.

Der Patient ist kein Bittsteller und der Arzt/Therapeut nicht der allwissende »Gott in Weiß«.

Offene Fragen

Auch heute noch stellt sich für mich die Frage, warum die Pflegekraft, die das Protokoll für den Aufnahmebericht geschrieben hat bzw. jede andere Pflegekraft, die ich deutlich darauf hinwies, Tavor seit 2 Wochen regelmäßig genommen zu haben, dies meiner Bezugstherapeutin bzw. der leitenden Psychologin nicht mitgeteilt hatten? Oder wurden sie darüber informiert und haben es ignoriert? Hielten sie es schlicht nicht für möglich, nach 2 Wochen durchgehender Tavoreinnahme abhängig sein zu können? Dann müsste man ihre fachliche Kompetenz anzweifeln, denn selbst aus dem Beipackzettel von Tavor geht hervor:

zu beachten ist, dass nach längerer Anwendungsdauer (länger als 1 Woche) und plötzlichem Absetzen des Arzneimittels Schlafstörungen, Angst- und Spannungszustände, innere Unruhe und Erregung vorübergehend verstärkt wieder auftreten können. Daher sollte die Behandlung nicht plötzlich, sondern durch schrittweise Verringerung der Dosis beendet werden

Vielleicht hat sich meine Bezugstherapeutin auch nach dem Gespräch mit meiner Therapeutin aus der Tagesklinik in Ihrer Kompetenz beschnitten, Ihrem Selbstwert verletzt gefühlt? Ich weiß bis heute nicht, ob dieses Gespräch überhaupt je stattfand. Vielleicht konnten sie und die leitende Ärztin mit meiner Kritik nicht umgehen? Das wäre dann höchst unprofessionell gewesen.

Das bei mir ein reiner Tavorentzug durchgeführt wurde, während man sich bei anderen Patienten an die Richtlinien hielt und auf ein Benzodiazepin mit längerer Halbwertszeit umstellte, lässt eigentlich nur eine Schlussfolgerung zu:

Es geschah aus purer Absicht, um mir den Entzug so schwer wie möglich zu machen. Das lässt sich natürlich nicht beweisen, aber insbesondere bei meiner Bezugstherapeutin und der leitenden Ärztin stellte ich während der Behandlungszeit fest, dass diese ein großes Problem mit ihrem Selbstwertgefühl hatten und auf Kritik gereizt und verärgert reagierten. Von der Psychologin und Wissenschaftlerin zum Selbstmitgefühl, Kristin Neff stammt das schöne Zitat:

Ein hohes Selbstwertgefühl bedeutet nicht, dass man ein besserer Mensch ist, sondern nur, dass man sich für einen besseren Menschen hält

Durch meine unbequeme und hartnäckige Art, die Behandlungsmethoden sowie die Fachkompetenz von Beiden infrage zu stellen und zu kritisieren, fing ihr hohes Selbstwertgefühl offenbar an zu bröckeln. Um das hohe Selbstwertgefühl wiederherzustellen gibt es zwei Möglichkeiten:

  1. Man wertet sich selbst auf, durch positive Affirmation.
  2. Man wertet die/den Andere/Anderen durch absichtlich verletzendes Verhalten ab.

Das ganze Verhalten mir gegenüber war von da an feindselig, ignorant und arrogant. Man reagierte auf jede Kritik meinerseits gereizt und verärgert. Das kann nicht allein an mir gelegen haben, da ich in der Tagesklinik zuvor nie Probleme dieser Art hatte und als ruhiger und sanfter Mensch wahrgenommen wurde. Ich habe meine Kritik, meine Wünsche stets sozial kompetent und sachlich vorgetragen. Erst nachdem ich ein halbes Dutzend mal beim Stationszimmer war und darum bat mir das Lorazepam zu geben bzw. in der Tagesklinik anzurufen und meine Angaben zu überprüfen wurde ich zunehmend verärgerter, bewahrte aber stets meine soziale Kompetenz, schrie niemanden an und verletzte niemanden persönlich.

Es ist in diesen drei Tagen so viel schief gelaufen, das man dies nicht mehr als Missverständnisse abtun kann. Hier wurden gravierende Fehler begangen, wegen mangelnder Kompetenz, Kommunikation und beruflicher Professionalität mit für mich katastrophalen Konsequenzen.

Wie gravierend diese Fehler waren, dass erfuhr ich erst viel später.

Fussnoten:
1. Paroxetin: SSRI-Antidepressivum, Quetiapin (Seroquel Prolong): Atypisches Neuroleptikum

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